Zur Anthropologisierung im zeitgenössischen Revisionismus

von Otto Finger

»Eine übergreifende, auch im zeitgenössischen Revisionismus dominierende weltanschauliche Tendenz der Marxismusfälschung lässt sich durch das Stichwort Anthropologisierung angeben. Wir waren ihr am Beginn dieser Studie anlässlich der Frage nach dem Menschen begegnet, wie sie sich im spätbürgerlichen Krisenbewusstsein weiter Kreise der naturwissenschaftlichen Intelligenz im Imperialismus stellt. Dies sei hier durch einen Hinweis auf Roger Garaudy ergänzt. –

Eine anthropologisierende Vernachlässigung des Klasseninhalts des dialektischen Materialismus kündigt sich in Garaudyschen Sätzen wie den folgenden an: „Das Wesen des marxistischen Materialismus besteht darin, dass er uns hilft, den eigentlichen Sinn unseres Lebens, seine Zwecke im Menschen zu finden, weil er sie nicht mit einem utopischen Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und einem vom Himmel gefallenen Ideal verbindet, sondern uns lehrt, in jeder Etappe unserer Geschichte eine durch reale Bedingungen historisch bestimmte Möglichkeit zu entdecken.“ [1/39]

Die Unbestimmtheit, in der uns hier ein humanistischer und atheistischer Grundsatz des Marxismus-Leninismus begegnet, die irreligiöse Rückbesinnung des Menschen auf seine eigenen Kräfte und Möglichkeiten, das Weglassen des Entscheidenden: dass Sinngebung menschlichen Lebens und humanistische Perspektivgewissheit in unserer Epoche einzig als Verwirklichung und wissenschaftliches Begreifen der Klassenziele der Arbeiterklasse denkbar sind – dies macht den materialistisch scheinenden Hinweis auf die realen Bedingungen und historisch bestimmten Möglichkeiten nichtig. –

Und in der Tat verschwimmen denn bei Garaudy auch bald die unübersteigerbaren Grenzen zwischen Materialismus und Idealismus, in welchem Verwischen ein philosophisches Kennzeichen allen alten und zeitgenössischen Revisionismus vorliegt. Wobei diese Vermengung nur ein Moment auf dem Wege zum Idealismus zurück ist, auch bei Garaudy, wie vordem bei Lefèbvre oder bei Bloch. –

Dieser Prozess drückt sich bei Garaudy etwa in folgenden Schriften und Behauptungen aus: Marx’ Hauptwerke seien Kritiken, und zwar im gleichen Sinne wie bei Kant und ebenso „radikal“ wie bei Kant. Dieser Kant und Marx verbindende philosophische Radikalismus sei ein Infragestellen der Grundlagen, Kritik der Grundlagen bisheriger Philosophie. Bei Marx gehe es um Philosophie, die keine traditionelle, um politische Ökonomie, die keine herkömmliche mehr sei. Und ebenso „radikal“ sei der Bruch mit der Tradition bei Kant: Infragestellen von Wissen und Handeln setze hier ein mit dem Bewusstsein der Rolle des Menschen „als des Prinzips jeder Wahrheit und jeden Werts“. Und hierin liege auch der humanistische Ausgangspunkt aller kritischen Philosophie von Protagoras und Sokrates bis Descartes und Kant. [2/40]

Abgesehen davon, dass der theoretische Radikalismus von Marx deshalb ein ganz anderes Format besitzt als der Kantsche Kritizismus, weil er auf einem gänzlich neuen Klasseninhalt der Philosophie beruht, abgesehen hiervon also ist das Ineinssetzen von kritischer Philosophie mit der Linie von Sokrates zu Kant hin eine gänzlich unhaltbare Aufblähung des Idealismus in der Philosophiegeschichte, vor allem subjektiv-idealistischer Menschenbilder in der vormarxschen Philosophie. –

Diese auffallende Vernachlässigung ausgerechnet der sozial- und religionskritischen Traditionen des Materialismus erscheint freilich dann geboten, wenn man, wie Garaudy, den Marxismus zu einer klassendifferenten Anthropologie, einem klassenneutralen Humanismus verfälscht. Und wenn man ferner darauf aus ist, die materialistischen Komponenten in dieser Philosophie der Arbeiterklasse fragwürdig zu machen, an die Peripherie zu drängen, zum Gegenstand der Kritik zu machen. Für diese „Kritik“ ist Kritizismus alten Stils selbstredend geeignet.

Dieses Garaudysche Konzept einer Marxrevision versucht sich, und damit kommen wir auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück, damit zu rechtfertigen, dass es dem Marxismus am humanwissenschaftlichen Fortschritt gebreche. [3/41] Dies sei eine Folge des „Dogmatismus“ und des „Stalinismus“ – auch terminologisch segelt Garaudy im Fahrwasser der antisowjetischen Propaganda mit. Seine idealistische Verfälschung des jungen Marx will gleichsam so etwas wie ein Beitrag zur Beschleunigung der Humanwissenschaften sein. –

Das einzige, was Garaudy hiermit nachhaltig beschleunigt, ist der Vorgang seiner Selbstdarstellung als eines Apologeten von Theoremen, die auch schon der junge Marx überwunden, philosophisch zerschlagen hat. Zu ihnen gehört die bürgerliche philosophische Anthropologie, die Vorstellung, man könne sinnvoll, rational, progressiv, revolutionierend über den Menschen etwas aussagen, ohne dies auf dem Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse zu tun. –

Die Garaudysche Argumentation unterstellt – als Rechtfertigung für solche Versuche – dem voll durchgebildeten System der marxistisch-leninistischen Weltanschauung (wofür die diskriminierende Bezeichnung „Dogmatismus“ nach dem Vorgang auch schon der von Lenin um jeden theoretischen Kredit gebrachten Revisionisten machistischer Spielart am Beginn unseres 20. Jahrhunderts verwandt wird) den Verlust des Prinzips menschlicher Aktivität, Subjektivität etc. Und der revisionistische Rückgriff auf den jungen Marx hebt diese Momente in einer solchen Weise heraus, dass sie von ihrem materialistischen Fundament abgetrennt werden. Nicht zuletzt auch darum erschien uns der Hinweis auf den Aktivismus des von Marx und Engels begründeten Materialismus der Arbeiterklasse nötig.«

Anmerkungen

1/39 R. Garaudy, Kann man heute noch Kommunist sein? Hamburg 1970. S. 49.

2/40 Ebenda, S. 63.

3/41 Vgl. ebenda, S. 15/16. »Hier wagt Garaudy die angesichts der schon längst in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit eingegangenen Pionierleistungen der auf marxistisch-leninistischer Grundlage betriebenen Wissenschaften groteske Behauptung, die „Humanwissenschaften“ hätten sich ohne Beteiligung der Marxisten entwickelt. Und er nennt z. B. die Psychologie.«

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975.

Studie von Otto Finger. Vgl. 3.5. Zur Anthropologisierung im zeitgenössischen Revisionismus, in: 3. Kapitel: Philosophischer Materialismus und Herausbildung der wissenschaftlichen Revolutionstheorie der Arbeiterklasse.

28.03.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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