Revolutionäres Klassenbewusstsein

Über das Wesen der politischen Erziehung und das Verhältnis von Theorie und Agitation

Von Otto Finger

»Die Anwendung und Entwicklung des materialistisch-dialektischen als eines revolutionären Denkens durch Lenin drückt sich in der skizzierten prinzipiellen Klarstellung der Widerspruchsdialektik zwischen Spontaneität und Bewusstheit sowie zwischen sozialistischer und bürgerlicher Ideologie aus. Widerspruchsdialektik will hier auch sagen: Die Entwicklung der sozialistischen Ideologie wird in der ganzen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus vorangetrieben durch den Klassenantagonismus zwischen Arbeit und Kapital. {…}

Um Anwendung und Entwicklung materialistisch-dialektischen Denkens durch Lenin handelt es sich auch, wenn er Maßregeln für die politische Erziehung und den Charakter der politischen Agitation begründet. In erster Linie ist dabei an die Leninsche Forderung auch Allseitigkeit und Konkretheit der politischen Bewusstseinsbildung zu denken. Ihre revolutionäre Stoßkraft, ihre politisch-revolutionäre Produktivität hängen genau hiervon ab. Lenin begründet die notwendige Allseitigkeit und Konkretheit der politischen Bewusstseinsbildung in Polemik mit den Versuchen des Opportunismus, die Agitation unter den Arbeitern auf ökonomische Fragen zu beschränken. Gleichzeitig klärt Lenin, dass eine abstrakte Aufklärung über den Gegensatz zwischen den Arbeitern und Unternehmern, eine allgemeine Propagierung der Idee der Feindschaft der Arbeiterklasse gegen den Zarismus noch keine wirkungsvolle politische Erziehung ist. Lenin begründet die Notwendigkeit, die ökonomische mit der politischen Agitation und die agitatorische mit der propagandistischen Arbeit zu einem Ganzen zu verbinden.

Agitation auf dem Felde des ökonomischen Kampfes ist notwendig. Lenin weist auf die Rolle der Flugblätter mit Enthüllungen über empörende Missstände, über das Elend und die Rechtlosigkeit der Arbeiter in den Fabriken hin, den moralischen Druck, den sie auf die Unternehmer ausüben, die Leidenschaft, die sie für die ökonomischen Keimformen des Krieges gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung auslösen können. Sie können Ausgangspunkte für das Erwachen des Klassenbewusstseins sein. –

Die genannte, wie Lenin sagt, „Enthüllungsliteratur“ markiert den Beginn der Bewegung und ist ein Bestandteil der Parteiarbeit. Aber sie ist noch nicht das Instrument und die Ausdrucksform des Entscheidenden, des politischen Kampfes. –

Die Partei „leitet nicht nur den Kampf der Arbeiterklasse für günstige Bedingungen des Verkaufs ihrer Arbeitskraft, sondern auch den Kampf für die Aufhebung der Gesellschaftsordnung, die die Besitzlosen zwingt, sich an die Reichen zu verkaufen“ [1/101]. –

Die revolutionäre Sozialdemokratie muss die Arbeiterklasse nicht bloß im Verhältnis zu dieser oder jener Unternehmergruppe vertreten, sondern zu den Klassen der kapitalistischen Gesellschaft und dem Staat als der organisierten politischen Macht.

Hierfür aber reicht die ökonomische Agitation nicht aus, hierfür bedarf es der politischen Erziehung der Arbeiterklasse, der aktiven Entwicklung ihres politischen Bewusstseins. Letzteres aber bedarf der gleichen Konkretheit und Vielseitigkeit wie die ökonomische Agitation. Die theoretische Erklärung des Wesens der politischen Unterdrückung muss mit der agitatorischen Verarbeitung all ihrer konkreten Erscheinungsformen verknüpft werden. –

Da die politische Unterdrückung der Arbeiter „auf den verschiedensten Lebens- und Tätigkeitsgebieten, dem beruflichen, dem allgemein-bürgerlichen, dem persönlichen, dem der Familie, dem religiösen, dem wissenschaftlichen usw. usw. in Erscheinung tritt – ist es da nicht klar, dass wir unsere Aufgabe, das politische Bewusstsein der Arbeiter zu entwickeln, nicht erfüllen werden, wenn wir es nicht übernehmen, die allseitige politische Entlarvung der Selbstherrschaft zu organisieren?“ [2/102]

Lenin konkretisiert im gegebenen Zusammenhang das berühmte Marxwort von der Notwendigkeit, die Wirklichkeit nicht zu interpretieren, sondern zu verändern dahin, dass es darauf ankommt, die Theorie zur revolutionären Agitation zu verdichten. Die theoretische Erklärung der Lage der Arbeiter, des Wesens der Ausbeutung, der Rolle des kapitalistischen Staats – all das gehört unbedingt zur ideologischen Bildung. Der Sprung aber aus der revolutionären Theorie in die revolutionäre Praxis wird ganz wesentlich vermittelt durch die lebendige, konkrete, Herz und Hirn der Menschen ergreifende politische Agitation. Die Leidenschaftlichkeit der Empörung über die ökonomischen Missstände nist zur politischen Leidenschaft zu entwickeln.

Der Leninsche Begriff der Agitation hat absolut nichts gemein mit Vereinfachung, mit Verwässerung der Wissenschaft. Im Gegenteil, er gründet sie auf den ganzen konkreten Reichtum des wissenschaftlichen Begreifens der Wirklichkeit. Wogegen Lenin zu Felde zieht, ist gerade die unwissenschaftliche Vereinfachung und Vereinseitigung der Agitationsarbeit zu bloß ökonomischer Enthüllung. In dieser Tendenz drückt sich ein falsches, opportunistisches Verhältnis zu den Reformen aus. –

Die revolutionäre Partei muss, dies betont Lenin gegen jedes anarchistische Revoluzzertum, für Reformen kämpfen. In diesem Kampf spielt die ökonomische Agitation eine bedeutende Rolle. Aber sie wendet diese Form der Agitation nicht bloß an, um einer kapitalistischen Regierung Zugeständnisse abzuringen, sie bekämpft den Staat der Kapitalisten nicht bloß mit Methoden des ökonomischen Kampfes, Reformen sind ihr nicht Selbstzweck. Vielmehr stellt sie Reformforderungen „auf dem Boden aller Erscheinungen des sozialen und politischen Lebens. Mit einem Wort, wie der Teil dem ganzen untergeordnet ist, ordnet sie den Kampf für Reformen dem revolutionären Kampf für Freiheit und Sozialismus unter.“ [3/103] –

Die Rolle der Agitation im Kampf um Reformen, ihre Inhalte, das Verhältnis von ökonomischer und politischer Agitation, ihre Aufgaben in der ideologischen Erziehung der Arbeiterklasse, all das lässt sich nur auf dem Boden eines ganzheitlichen revolutionär-dialektischen Konzepts bestimmen.«

Ohne die Entwicklung des politischen Bewusstseins keine revolutionäre Aktivität der Massen.

»Ohne die Entwicklung des politischen Bewusstseins keine revolutionäre Aktivität der Massen. Das ist Lenins antiopportunistischer Grundsatz in Sachen ideologischer Führungstätigkeit der Partei. Für das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse, ihr, wie Lenin sagt, „wahrhaftes Klassenbewusstsein“, entwickelt Lenin nun eine Reihe entscheidender Inhalte seiner Konkretheit. Desgleichen auch Fähigkeiten seines Beobachtens, Urteilens und Entscheidens. Es ist ein dialektisches Ganzes von Erkenntnisgehalten, Denkweisen, nUrteilsfähigkeiten. Für seine Herausbildung sind Theorie und praktische Erfahrung, Erkenntnis großer sozialer Gesetzeszusammenhänge und allseitige politische Information über den vor sich gehenden aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess vonnöten.

Klassenbewusstsein ist in dem Sinne Selbsterkenntnis der Klasse, als in ihr sich die Arbeiter in ihrer objektiven Lage und Perspektive begreifen. Aber gerade diese Selbsterkenntnis ist nicht möglich ohne die Kenntnis und das praktische Erfahren der Ganzheit der Klassenbeziehungen in der Gesellschaft. –

Die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein der Arbeiterklasse darf nicht nur auf sich selbst gelenkt werden, „denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden mit der absoluten Klarheit nicht nur der theoretischen … sogar richtiger gesagt: nicht so sehr der theoretischen als vielmehr der durch die Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbeziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft [4/104].“ –

Entgegen jener Versionen der Leninfälschung, die Lenin ein sogenanntes „scientistisches“ Marxismusverständnis – den vorgeblichen Aberglauben an die Allmacht wissenschaftlicher Aussagen über die soziale Realität – vorwerfen, ist es Lenin nicht im Traum eingefallen, von der Theorie als solcher, ohne ihre innigste Verschmelzung mit der politischen Alltagserfahrung, revolutionäre Wunder zu erwarten.

Zur Konkretheit des Klassenbewusstseins des Arbeiters gehört also die Konkretheit des Wissens und die Konkretheit der praktischen Erfahrung vom Wesen und der sozialpolitischen Physiognomie der übrigen Klassen der Gesellschaft, der feindlichen Klassen und der möglichen Bundesgenossen: Der Arbeiter muss „eine klare Vorstellung haben von dem ökonomischen Wesen und dem sozialen und politischen Gesicht des Gutsbesitzers und des Pfaffen, des hohen Beamten und des Bauern, des Studenten und des Lumpenproletariers…“ [5/105.

Zum Klassenbewusstsein gehört folglich die Gabe der scharfen Beobachtung des Verhaltens und Handelns der übrigen Klassen der Gesellschaft, und zwar anhand konkreter und brennender politischer Ereignisse sowie „… in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens …“ [6/106]

Das Klassenbewusstsein der Arbeiter zeichnet sich durch eine charakteristische ideologiekritische Fähigkeit aus: Es muss die starken und schwachen Seiten der übrigen Klassen kennen, es muss sich „… in den landläufigen Phrasen und all den Sophistereien auskennen, mit denen jede Klasse und jede Schicht ihre egoistischen Neigungen und ihr wahres ,Innere’ verhüllt …“ [7/107]

Klassenbewusstsein ausbilden, das heißt die Fähigkeit entwickeln, „die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden [8/108]“. –

Zur materialistischen Analyse zählt die Enthüllung des Wesens politischer Einrichtungen und Gesetze, Aufdeckung der Interessen, denen sie dienen. [9/109] Die theoretische Klassenanalyse muss so in praktisches Handeln umschlagen. Ohne diesen Umschlag kann Wissen nicht die Qualität von Klassenbewusstsein haben. Klassenbewusstsein ist Bewusstsein des Handelns. Es drückt sich aus in der Fähigkeit, auf politische Vorgänge und Ereignisse, auf Unterdrückung, auf Gewalt zu reagieren und zwar vom „sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren.“ [10/110] Der „sozialdemokratische Standpunkt“, das ist der Standpunkt des revolutionären Marxismus, des wissenschaftlichen Sozialismus.

Das skizzierte Konzept über die Inhalte und die Aufgaben der politischen Bildung der Arbeiter, über die Erziehung zum revolutionären Klassenbewusstsein macht deutlich: Lenin hebt die allgemeinsten Grundzüge der Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels über die Theorie-Praxis-Vermittlung auf eine solche Stufe der Konkretisierung und der Anleitung zum unmittelbaren Handeln der Partei, dass wir mit Fug und Recht von einem Übergang zu einer neuen Qualität der Ideologielehre überhaupt sprechen können. Sie ist eine Säule der Leninschen Begründung der Theorie der Partei neuen Typs und ein unverwechselbares Merkmal seiner Weiterentwicklung der gesamten philosophisch-theoretischen und praktisch-organisatorischen Grundlage der Revolutionstheorie.

Die ökonomistische Herabsetzung der Rolle der Theorie, der ideologischen Führungstätigkeit und des politischen Klassenbewusstseins ist ein Ausdruck des gleichen kleinbürgerlich-intelligenzlerischen Unglaubens an die revolutionäre Kampfkraft der Arbeiterklasse wie die Ersetzung der zielstrebigen und langwierigen organisatorischen, politischen und ideologischen Führungstätigkeit durch terroristische Abenteuer.

Als ideologische Wurzel beider, der rechtsopportunistischen ökonomistischen und der „links“-opportunistischen terroristischen Abweichung, enthüllt Lenin die Anbetung der Spontaneität. In Ursachen und Wirkungen besteht zwischen beiden ein notwendiger Zusammenhang, so paradox es erscheinen mag: predigen doch die einen den „unscheinbaren“ Tageskampf und die anderen den „selbstlosen Kampf einzelner Personen“. [11/111]

Die innere Logik dieses Zusammenhangs charakterisiert Lenin wie folgt: „Die Ökonomisten und die Terroristen sind Anbeter verschiedener Pole der spontanen Richtung: die Ökonomisten

der Spontaneität der ,reinen Arbeiterbewegung’, die Terroristen

der Spontaneität der leidenschaftlichen Empörung der Intellektuellen,

die es nicht verstehen oder nicht die Möglichkeit haben, die revolutionäre Arbeit mit der Arbeiterbewegung zu einem Ganzen zu verbinden. Wer den Glauben an diese Möglichkeit verloren oder nie besessen hat, dem fällt es tatsächlich schwer, für seine Empörung und seine revolutionäre Energie einen anderen Ausweg zu finden als den Terror“. [12/112] In beiden Fällen kommt es dazu, dass die Arbeiterbewegung auf bloß ökonomischen Kampf festgelegt wird, der politische Kampf aber zu einer Sache der Intellektuellen wird, dessen entscheidendes Vehikel dann freilich auch gar nichts anderes sein kann als der Terror. [13/113]

Anmerkungen

1/101 W. I. Lenin, Was tun?, in Werke, Bd. 5, S. 413.

2/102 Ebenda, S. 413.

3/103 Ebenda, S. 418f.

4/104 Ebenda.

5/105 Ebenda.

6/106 Ebenda, S. 426.

7/107 Ebenda.

8/108 Ebenda.

9/109 Vgl. ebenda.

10/110 Ebenda.

11/111 Ebenda, S. 431.

12/112 Ebenda, S. 431f.

13/113 Vgl. ebenda.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl. 7.11. Über das Wesen der politischen Erziehung und das Verhältnis von Theorie und Agitation, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.

18.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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