Revolutionäre Emanzipation vs. Opportunismus und Anarchismus

Lenins Kritik des Opportunismus und Anarchismus in der Arbeit „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“

Von Otto Finger

Die eben genannte Arbeit baut die neue Parteitheorie insbesondere in Organisationsfragen aus. Die von Lenin entwickelten Organisationsprinzipien basieren ebenso wie die Grundsätze für die ideologische Führungstätigkeit der Partei philosophisch auf einer materialistisch-dialektischen Analyse der sozialen Bewegung. Aus der Erkenntnis der Konkretheit der Arbeiterbewegung, der Differenziertheit der Arbeiterklasse in politischer und ideologischer Hinsicht leitet Lenin die notwendigen Organisationsprinzipien ab. Das Thema des Unterschiedes zwischen tradeunionistischen und politischen Kampfformen nimmt Lenin in diesem Zusammenhang erneut auf. Es ist nicht zufällig, dass Lenin in der Arbeit „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ auf die Dialektik expressis verbis zu sprechen kommt. Lenin arbeitet einen grundlegenden und unversöhnlichen Widerspruch in Organisationsfragen heraus.

Die Entwicklung der Meinungsverschiedenheiten in Organisationsfragen geht, wie Lenin betont, „tatsächlich den dialektischen Weg, den Weg der Widersprüche“. Freilich ist dabei die dialektische Methode alles andere als eine Manier, Fehler zu rechtfertigen. Aufdeckung der Widersprüche, der Unvermeidlichkeit widerstreitender Tendenzen bedeutet kein neutralistisches Verwischen der revolutionären Fronten, sondern gerade ihre völlige Klarstellung. In diesem Falle Klarstellung des Widerspruchs zwischen menschewistischen Opportunismus und der revolutionären Organisationsauffassung der Bolschewiki. Lenin weist ihn in der genannten Arbeit als einen allgemeinen Widerspruch in der Entwicklung der Arbeiterbewegung nach, der sich unter den russischen Verhältnissen in spezifischer Form offenbart. Dialektik, das ist die Methode, diesen Widerspruch in seiner objektiven Bedingtheit und Lösbarkeit im Sinne der politisch-revolutionären Grundinteressen der Arbeiterbewegung aufzuweisen:

Aber die große Hegelsche Dialektik, die der Marxismus übernahm, nachdem er sie auf die Füße gestellt hatte, darf niemals verwechselt werden mit der vulgären Methode, den Zickzackkurs politischer Führer zu rechtfertigen, die vom revolutionären zum opportunistischen Flügel hinüberwechseln, und mit der vulgären Manier, einzelne Erklärungen, einzelne Momente in der Entwicklung der verschiedenen Stadien eines einheitlichen Prozesses zu vermengen. Die wahre Dialektik rechtfertigt nicht persönliche Fehler, sie studiert vielmehr die unvermeidlichen Wendungen und beweist ihre Unvermeidlichkeit auf Grund eingehendster Erforschung der Entwicklung in ihrer ganzen Konkretheit. Ein Hauptgrundsatz der Dialektik lautet: Eine abstrakte Wahrheit gibt es nicht, die Wahrheit ist immer konkret … Und ferner darf man diese große Hegelsche Dialektik nicht mit der abgeschmackten Lebensweisheit verwechseln, die in dem italienischen Sprichwort zum Ausdruck kommt – mettere la coda dove non va il capo (den Schwanz durchstecken, wo man den Kopf nicht durchzwängen kann).“ [1/130]

Der primäre Angriffspunkt ist auch in dieser 1904 geschriebenen Arbeit der Opportunismus, der Nachtrab hinter der spontanen Bewegung. Diesmal geht es um den Nachtrab in Organisationsfragen. Ohne seine Überwindung ist revolutionärer Kampf undenkbar. Lenin zieht hierbei ein Fazit aus den Auseinandersetzungen zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki um den Inhalt der Parteiarbeit und den organisatorischen Aufbau der Partei. Lenin entlarvt den Opportunismus der Menschewiki in Organisationsfragen. Er charakterisiert diese spezifische Erscheinungsform des Opportunismus in ihren charakteristischen Zügen und entwickelt die Organisationsprinzipien der bolschewistischen Kampfpartei, als Kontraposition zum Menschewismus. Lenin knüpft dabei an die besten Traditionen der revolutionären Sozialdemokratie des 19. Jhs. an und entwickelt deren organisatorische Erfahrungen für die neuen Bedingungen weiter. –

Als typisch für den Opportunismus in Organisationsfragen hebt Lenin solche Auffassungen und Haltungen wie die folgenden heraus:

das „Eintreten für eine verschwommene, nicht fest gefügte Parteiorganisation“;

die „Abneigung gegen den Gedanken (den ,bürokratischen’ Gedanken) des Aufbaus der Partei von oben nach unten, ausgehend vom Parteitag und den von ihm geschaffenen Körperschaften“;

das „bestreben, von unten nach oben zu gehen und es jedem Professor, jedem Gymnasiasten und ,jedem Streikenden’ selbst zu überlassen, ob er sich als Parteimitglied betrachten will“;

die „Feindseligkeit gegen den ,Formalismus’, der vom Parteimitglied die Zugehörigkeit zu einer von der Partei anerkannten Organisation verlangt“;

den „Hang zur Mentalität des bürgerlichen Intellektuellen, der lediglich bereit ist, ,die organisatorischen Beziehungen platonisch anzuerkennen’“;

die „Schwäche für opportunistische Spitzfindigkeiten und anarchistische Phrasen“;

die „Tendenz zum Autonomismus gegen den Zentralismus“. [2/131]

Es liegt auf der Hand, dass die Überwindung solcher Anschauungen und Praktiken zu einer Lebensfrage jeder revolutionären Partei gehört. Sie verliert ihre Schlagkraft, wenn sie solchen Tendenzen Raum gibt. In ihnen drückt sich die Gefahr der Unterordnung der proletarischen unter die bürgerliche Politik aus.

Gerade weil, wie Lenin betont, die Arbeiterklasse der Kapitalistenklasse am Beginn der revolutionären Entwicklung nichts als ihre Organisiertheit entgegenzusetzen hat. Jede Unterschätzung der Organisationsfrage, jedes Zurückweichen vor dem Druck des Opportunismus in diesen Fragen kommt darum in den Auswirkungen einem Verrat an der Revolution gleich.

Die Praxis hat bestätigt, dass überall dort, wo es dem Opportunismus gelungen ist, die genannten Tendenzen in der Arbeiterbewegung durchzusetzen, der Vormarsch der revolutionären Kräfte gehemmt worden ist.

Die Bedeutung des Leninschen Kampfes gegen diese Gestalt des Opportunismus ist in dem Maße gewachsen, wie die imperialistische Bourgeoisie ihre Verfügungsgewalt über die materiellen nProduktionsmittel und geistigen Produktivkräfte nicht zuletzt auch dafür einsetzt, die organisatorischen Bedingungen ihrer Klassenherrschaft zu perfektionieren.

Es ist keineswegs von bloß russischer Bedeutung, keineswegs bloß wichtig im Kampf gegen den Zarismus, sondern im Kampf gegen die imperialistische Bourgeoisie aller Länder, wenn Lenin betont:

Das Proletariat besitzt keine andere Waffe im Kampf als die Organisation. Durch die Herrschaft der anarchischen Konkurrenz in der bürgerlichen Welt gespalten, durch die unfreie Arbeit für das Kapital niedergedrückt, ständig in den ,Abrund’ völliger Verelendung, der Verwilderung und Degradation hinabgestoßen, kann und wird das Proletariat unbedingt nur dadurch eine unbesiegbare Kraft werden, dass seine ideologische Vereinigung auf Grund der Prinzipien des Marxismus gefestigt wird durch die materielle Einheit der Organisation, die Millionen Werktätiger zur Armee der Arbeiterklasse zusammenschweißt.“ [3/132]

Als eine objektive Klassenwurzel der skizzierten menschewistischen Form des Opportunismus deckt Lenin die Lebenslage der bürgerlichen Intelligenz auf. Die Schlagkraft der Partei wird in Frage gestellt, wenn, wie Lenin sagt, in ihr die „Mentalität des bürgerlichen Intellektuellen“, ihr bloß „platonisches“ Verhältnis zur Organisationsdisziplin, ihre „Spitzfindigkeiten“ und „anarchistische Phrasen“ Platz greifen. Lenin charakterisiert den genannten Opportunismus als spezifische nErscheinungsform des Einflusses der bürgerlichen Intelligenz auf die Arbeiterbewegung, als Tendenz, Denk- und Verhaltensweisen dieser Schicht in die Arbeiterbewegung zu infiltrieren.

Und Lenin enthüllt, wie die objektive Stellung der bürgerlichen Intelligenz in der kapitalistischen Gesellschaft diese Haltungen bedingt. Die bürgerliche Intelligenz scheut sich, wie Lenin betont, „vor der proletarischen Disziplin und Organisation … Niemand wird zu leugnen wagen, dass die Intelligenz als besondere Schicht der modernen kapitalistischen Gesellschaft im großen und ganzen gerade durch den Individualismus und die Unfähigkeit zur Disziplin und Organisation gekennzeichnet ist … hierdurch unterscheidet sich diese Gesellschaftsschicht unter anderem ungünstig vom Proletariat; darin liegt eine der Erklärungen für die Schwächlichkeit und Wankelmütigkeit der Intelligenz, eine Eigenschaft, die das Proletariat so oft zu spüren bekommt; und diese Eigenschaft der Intelligenz steht in unlöslichem Zusammenhang mit ihren gewöhnlichen Lebensbedingungen und ihren Erwerbsverhältnissen, die sich in sehr vielem den Verhältnissen der kleinbürgerlichen Existenz nähern (Arbeit als Einzelperson oder in sehr kleinen Kollektiven usw.).“ [4/133]

Nun könnte eingewandt werden, dass dies für den Kapitalismus der Jahrhundertwende [19./20. Jh.], nicht mehr aber für den heutigen gelte. Gegenwärtig werde doch die Wissenschaft selbst gleichsam industriemäßig betrieben. Charakteristisch seien für moderne wissenschaftliche Arbeit große Kollektive von Wissenschaftlern und Technikern, die Ergebnisse mit Hilfe von Geräten gewinnen, in Laboratorien und Forschungszentren, deren Ausmaße sich total von den, wenn man so will, wissenschaftlichen Manufakturen des 19. Jahrhunderts unterschieden. In der Tat ist dies alles für die Arbeits- und Lebensbedingungen von Teilen der Intelligenz, selbstredend nicht der ganzen Schicht, bestimmend geworden. Im großen und ganzen, wird man mit Lenin sagen dürfen, dominieren noch immer die Verhältnisse der kleinbürgerlichen Existenz in dieser Schicht. Die Veränderung der Existenzbedingungen bei jenem Teil, der am engsten mit der modernen Großindustrie verbunden ist, die Tendenz zur Proletarisierung auch, kann selbstredend nicht auf die ganze Intelligenz ausgedehnt werden. Und es kommt hinzu, dass selbst bei der Annäherung der Lebensbedingungen an die des Industrieproletariats die traditionellen Bindungen an die Bourgeoisie, die Macht der traditionellen kleinbürgerlichen und bürgerlichen Denkweise fortwirkt. –

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Kurz, Lenins Charakteristik trifft nach wie vor eine Kernfrage des Verhältnisses von revolutionärer Arbeiterbewegung und bürgerlicher Intelligenz. Worauf es ankommt, ist gerade, deren fortgeschrittenste, zum antikapitalistischen Handeln bereite Vertreter zum Denken und Verhalten nach den Normen der Arbeiterklasse und ihrer sozialistischen Ideologie zu führen. Lenin zeigt in aller Klarheit: bürgerlich-intellektueller Individualismus ist absolut unverträglich mit proletarischer Organisation und Disziplin.

Auch in Organisationsfragen sind Opportunismus und Anarchismus nur zwei Seiten einer Medaille, ja, Lenin zeigt, dass diese Form des Opportunismus sich wesentlich im Anarchismus manifestiert. Gemeinsames Merkmal aller Varianten von Opportunismus ist seine, wie Lenin betont, „Unbestimmtheit, Verschwommenheit und Ungreifbarkeit“. [5/134]. Seine Haltung ist die des Lavierens zwischen den Standpunkten, des Ausweichens vor eindeutigen Fragestellungen, des eklektischen Hin und Her. –

Lenin nennt als Musterbeispiel für diesen Opportunismus in Programmfragen, also in Fragen der Strategie des Kampfes, Eduard Bernstein, als typisch für Opportunismus in taktischen Fragen die Haltung von Vollmars und als typisch für den Opportunismus in Organisationsfragen die Standpunkte Martows und Axelrods. In letzteren drückt sich ebenso wie im Ökonomismus eine russische Variante des internationalen Opportunismus aus. Und bei allem Schillernden ihrer Stellung zeigt sich als das Grundlegende ihres Opportunismus der Anarchismus:

Schließlich erscheint auf der Bildfläche als das einzige, wirklich bestimmte und in der Praxis deshalb besonders klar hervortretende Prinzip (die Praxis geht der Theorie immer voran) das Prinzip des Anarchismus. Verspottung der Disziplin – Autonomismus – Anarchismus, das ist die Stufenleiter, an der unser organisatorischer Opportunismus bald hinauf, bald hinunter klettert …“ [6/135]

Die aus kleinbürgerlichen Intellektualismus entspringende Opposition gegen die Leninsche demokratisch-zentralistische Konzeption von der Parteiorganisation argumentierte bereits damals mit dem Vorwurf eines vorgeblichen Bürokratismus. Lenin kennzeichnet den tatsächlichen Gehalt dieses „Geschreis über den Bürokratismus“ wie folgt: Es ist ein Deckmantel für die Unzufriedenheit über die Niederlage der Meinungen, Wünsche und Ziele einer intelligenzlerischen Minderheit. Ihr Unmut über den Sieg der Mehrheit, der sich auch in der Schaffung bestimmter Führungsorgane ausdrückt, erzeugt das Geschwätz vom Bürokratismus. Für bürokratisch wird erklärt, was von den Vorstellungen der Minderheit abweicht. Es ist Spiegelbild der Unfähigkeit, sich der übergeordneten Leitung unterzuordnen. Diese Ideologie und Haltung zu überwinden wurde zur unabweisbaren Notwendigkeit. –

Lenin nmusste den Kampf gegen diese Tendenz bei Strafe des Untergangs der Parteiorganisation führen: „… keine einzige zentrale Körperschaft einer beliebigen Partei auf der Welt wird ihre Fähigkeit nachweisen können, Leute zu leiten, die sich der Leitung nicht unterordnen wollen. Die Weigerung, sich der Leitung der Zentralstellen unterzuordnen, ist gleichbedeutend mit der Weigerung, Mitglied der Partei zu sein, ist gleichbedeutend mit der Zerstörung der Partei, sie dient nicht der Überzeugung, sie bezweckt die Vernichtung.[7/136]

In der Folgeentwicklung, besonders seit dem Sieg der Oktoberrevolution und dem Aufbau des Sowjetstaates hat sich – wie wir schon bei Gelegenheit zeitgenössisch revisionistischer Angriffe, z. B. R. Garaudys, gegen die marxistisch-leninistische Lehre von Staat und Partei vermerkten – aus diesem Bürokratismusargument eine breit angelegte Linie der Diffamierung des ganzen Prinzips der Notwendigkeit sozialistischer Führungstätigkeit und all seiner konkreten Anwendungen entwickelt. –

Was in den Auseinandersetzungen aus dem Jahre 1904 ein innerparteiliches Problem der sich eben formierenden Partei der Bolschewiki war, und damals Ausdruck eines kleinbürgerlich-intelligenzlerischen Widerstands gegen die unabdingbare Notwendigkeit der Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Handelns der proletarisch-revolutionären Partei war, versucht heute [- 1973 -] der Revisionismus und die gesamte antisowjetische Propaganda und antileninistische Ideologie als ein konterrevolutionäres Grundkonzept zur Aufweichung der sozialistischen Staatsmacht und der Führungsrolle der marxistisch-leninistischen Partei zu verbreiten. {…} –

Lenins These, die wir oben zitiert haben, die These nämlich, dass die „Weigerung, sich der Leitung der Zentralstellen unterzuordnen“ Vernichtung der Partei bedeutet, gilt heute – im internationalen Klassenkampf – in tatsächlich welthistorischen Dimensionen.

Die Entlarvung des Geredes von Bürokratie als einer Form des Angriffs gegen die zentralen Führungsorgane der Partei und die Aufdeckung seiner ideologischen und Klassenwurzeln hat Lenin allerdings keineswegs daran gehindert, zu definieren, was Bürokratismus wirklich ist und zu unterstreichen, dass er bekämpft werden muss:

Bürokratismus bedeutet: die Interessen der Sache den Interessen der Karriere unterordnen, hinter den Posten her sein und die Arbeit links liegenlassen, sich um die Kooptation balgen, anstatt für die Idee zu kämpfen. Ein solcher Bürokratismus ist tatsächlich nicht wünschenswert und unbedingt schädlich für die Partei …“ [8/137]

Lenins Konzept für den Aufbau und die Arbeitsweise der revolutionären Parteiorganisation formuliert ein allgemeines Fazit aus der Entwicklung des Industrieproletariats und zieht ein spezielles Fazit aus der Entwicklung seiner Partei. Opportunismus in Organisationsfragen ist nicht zuletzt ein Ausdruck des Nichtbegreifens der dialektischen Entwicklung des Industriekapitalismus in bezug auf die Formierung des Proletariats zur Klasse. Praxis und Theorie der proletarischen Organisation basieren auf dem folgenden objektiven, gesetzmäßigen Prozess, den in seiner wirklichen Bedeutung zu begreifen dem kleinbürgerlichen Intellektuellen schwerfällt:

Gerade die Fabrik, die so manchem nur als Schreckgespenst erscheint, ist die höchste Form der kapitalistischen Kooperation, die das Proletariat vereinigte und disziplinierte, die es lehrte, sich zu organisieren, und es an die Spitze aller übrigen Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung stellte. Gerade der Marxismus als Ideologie des durch den Kapitalismus geschulten Proletariats belehrte und belehrt die wankelmütigen Intellektuellen über den Unterschied zwischen der ausbeuterischen Seite der Fabrik (der auf der Furcht vor dem Hungertod beruhenden Disziplin) und ihrer organisatorischen Seite (der auf der gemeinsamen, durch die Bedingungen der technisch hochentwickelten Produktion vereinigten Arbeit beruhenden Disziplin). Disziplin und Organisation, die der bürgerliche Intellektuelle so schwer begreift, eignet sich das Proletariat dank der ,Schule’, die es in der Fabrik durchmacht, besonders leicht an. Die Todesangst vor dieser Schule, das völlige Nichtverstehen ihrer organisierenden Bedeutung sind eben für Denkmethoden charakteristisch, die kleinbürgerliche Existenzbedingungen widerspiegeln und jene Art von Anarchismus erzeugen, die von den deutschen [emanzipatorisch-revolutionären] Sozialdemokraten Edelanarchismus genannt wird, d. h. den Anarchismus des ,edlen’ Herrn, den Herrenanarchismus, möchte ich sagen. Dem russischen Nihilisten ist dieser Edelanarchismus besonders eigen. Die Parteiorganisation erscheint ihm als eine ungeheuerliche ,Fabrik’, die Unterordnung des Teils unter das Ganze und der Minderheit unter die Mehrheit betrachtet er als ,Knechtung’ (siehe die Feuilletons Axelrods), die Arbeitsteilung unter der Leitung einer Zentralstelle ruft bei ihm ein tragikomisches Gezeter über die Verwandlung der Menschen in ,Rädchen und Schräubchen’ hervor (wobei als besonders mörderische Art dieser Verwandlung die Verwandlung von Redakteuren in Mitarbeiter betrachtet wird), die Erwähnung des Organisationsstatuts der Partei ruft eine verächtliche Grimasse und die geringschätzige Bemerkung (an die Adresse der ,Formalisten’) hervor, dass es ja auch ganz ohne Statut gehe.“ [9/138]

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Die Schaffung einer festgefügten Organisation der Partei ergibt sich als notwendig und möglich dann, wenn das Anfangsstadium des Zirkelwesens, des nur lockeren Zusammenhangs zersplitterter Gruppen beendet ist, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und ihre Ideologie in die Breite wächst. Es ist der notwendige Umschlagspunkt von der Autorität der Ideen in die Autorität der Macht, d. i. der Organisation und ihrer Führungsorgane. –

Man dürfe nicht vergessen, dass am Anfang die Partei „… kein formell organisiertes Ganzes, sondern nur die Summe vereinzelter Gruppen war, und darum konnte es auch keine Beziehungen zwischen diesen Gruppen geben als die ideologische Einwirkung. Jetzt sind wir eine organisierte Partei geworden, das aber bedeutet, eine Macht zu schaffen, die Autorität der Ideen in eine Autorität der Macht zu verwandeln und die unteren Parteikörperschaften den höheren unterzuordnen.“ [10/139]

Lenin verbindet mit der Kritik der verhängnisvollen Folgen einer Übertragung der Mentalität des kleinbürgerlichen Intellektuellen auf die Organisationsform der revolutionären Arbeiter keineswegs eine sektiererische Intelligenzfeindlichkeit. Vielmehr begründet er auch in diesem organisations- und parteitheoretischen Zusammenhang gültige Prinzipien für das ebenso kameradschaftliche wie selbstbewusste Verhältnis des klassenbewussten Arbeiters zum marxistischen Intellektuellen. Worauf es Lenin ankommt, ist die Abwehr jenes „edelanarchistischen“ Einflusses, der sowohl die Formierung der soldatischen Diszipliniertheit im revolutionären Klassenkampf als auch die Durchsetzung der Prinzipien des demokratischen Zentralismus behindern würde:

Der klassenbewusste Arbeiter hat längst jene Säuglingszeit überwunden, in welcher er den Intellektuellen als solchen mied. Der klassenbewusste Arbeiter weiß jenen reicheren Wissensschatz, jenen weiteren politischen Gesichtskreis, den er bei den [revolutionären] sozialdemokratischen Intellektuellen findet, zu schätzen. Aber in dem Maße, wie sich bei uns eine wirkliche Partei herausbildet, muss der klassenbewusste Arbeiter lernen, die Mentalität eines Soldaten der proletarischen Armee von der Mentalität eines bürgerlichen Intellektuellen zu unterscheiden, der mit anarchistischen Phrasen prunkt; er muss lernen, die Erfüllung der Pflichten eines Parteimitgliedes nicht nur von den einfachen Mitgliedern, sondern auch von den ,Leuten an der Spitze’ zu fordern, er muss lernen, der Nachtrabpolitik in organisatorischen Fragen mit derselben Verachtung zu begegnen, mit der er in vergangenen Jahren der Nachtrabpolitik in taktischen Fragen begegnet ist.“ [11/140]

Die von Lenin im Kampf gegen den Opportunismus in Organisationsfragen und den kleinbürgerlich-intelligenzlerischen Individualismus begründeten Prinzipien für die Gestaltung der revolutionären Organisation der Partei der Arbeiterklasse lassen sich so zusammenfassen:

Die revolutionäre Partei ist der organisierte Vortrupp der Arbeiterklasse und die höchste Form der Klassenorganisation.

Die Parteiorganisation ist nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut. Ein einheitliches Statut. Leitung durch ein zentrales Führungsorgan, einheitliche Disziplin, Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, der unteren Organisationen unter die höheren sind unabdingbare Garanten ihrer Kampfkraft.

Die revolutionäre Arbeiterpartei ist unlösbar mit den Massen der Arbeiterklasse verbunden und zwar gerade auf der Basis ihrer zentralisierten und disziplinierten Organisation: „… je stärker unsere Parteiorganisationen sein werden, denen wirkliche [revolutionäre] Sozialdemokraten angehören, je weniger Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit es innerhalb der Partei geben wird, um so breiter, vielseitiger, reicher und fruchtbarer wird der Einfluss der Partei auf die sie umgebenden, von ihr geleiteten Elemente der Arbeitermassen sein.“ [12/141]«

[Eine modifizierte Übernahme.]

Anmerkungen

1/130 W. I. Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, in: Werke, Bd. 7, Berlin 1966, S. 416f.

2/131 Vgl. ebenda, S. 200f.

3/132 Ebenda, S. 419f.

4/133 Ebenda, S. 266f.

5/134 Ebenda, S. 408.

6/135 Ebenda, S. 409.

7/136 Ebenda, S. 367.

8/137 Ebenda.

9/138 Ebenda, S. 395f.

10/139 Ebenda, S. 370.

11/140 Ebenda, S. 398f.

12/141 Ebenda, S. 257. »Vgl. zu den wichtigsten Ergebnissen der Leninschen Kritik am Opportunismus in Organisationsfragen auch: Geschichte der KPdSU, Berlin 1971, S. 78ff.«

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl. 7. 13. Lenins Kritik des Opportunismus und Anarchismus in der Arbeit „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.

23.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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