Philosophie der Revolution

Gesetz und Handeln

Von Otto Finger

Der »materialistische Grundstandpunkt schließt jede Vereinseitigung irgendeines aus der gesellschaftlichen Arbeit abgeleiteten Moments des historischen Fortschritts aus, nimmt ihnen den Schein der Selbständigkeit. Er lenkt den Blick darauf, dass die Produktionstätigkeit der Volksmassen in aller abgelaufenen Geschichte und auch in der gegenwärtigen Epoche {…} den Boden bildet, in dem jeder Fortschritt in der Naturaneignung und in der Beherrschung der sozialen Prozesse wurzelt.

Hierin liegt auch eine erste, freilich noch sehr allgemeine Antwort auf die folgende Frage eingeschlossen, ob nämlich die Macht des Menschen sich in der bloßen Erkenntnis von Gesetzen erschöpft, und ob seine Anpassung an diese Gesetze der einzige Spielraum seiner Aktivität ist. Zunächst: gesellschaftliche Gesetze sind in allererster Linie Entwicklungsgesetze der Arbeit, der gesellschaftlichen Produktion. Als fremde Gewalten treten sie nur solange gegen den Menschen, wie er seine Produktion, mit dem jungen Marx zu reden, in Form der entfremdeten Arbeit leistet. Das heißt insbesondere, solange der Mensch durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln von den Produkten seiner Arbeit getrennt bleibt, solange er zum Objekt der Ausbeutung durch das Kapital degradiert ist.

Die Aufhebung aber dieser „Entfremdung“, das heißt die sozialistische Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise, fällt zusammen mit der Beherrschung eben der Gesetze der gesellschaftlichen Produktion durch die vergesellschafteten Produzenten selbst. –

Das Naturgesetze in der gesellschaftlichen Naturaneignung fortschreitend ihre „Fremdheit“ gegen den Menschen verlieren, gilt für Arbeitstätigkeit schon auf jeder vorsozialistischen Entwicklungsstufe. In jedem Arbeitsprozess werden Naturgesetze und Naturkräfte vom Menschen angewendet und in Bewegung gesetzt. Sie verlieren damit ebensowenig wie die gesellschaftlichen Gesetze etwas von ihrer Materialität und Objektivität. Wohl aber ist die ganze Entwicklungsgeschichte der gesellschaftlichen Arbeit eine Geschichte fortschreitender Naturbeherrschung durch den Menschen. [- 1975 -]

Die Frage nach dem Sinn des individuellen Lebens und des geschichtlichen Handelns wird rationell – d. i. außerhalb religiöser und nidealistischer Unterstellung eines übernatürlichen und überhistorischen letzten Zwecks – erst auf dem Boden der skizzierten historisch-materialistischen Grundposition klärbar. So wie gilt, dass die Gesetze der geschichtlichen Bewegung nichts sind als Gesetze des Handelns der Menschen selbst, so gilt auch, dass der Sinn dieses Handelns, das heißt primär sein gewusstes Ziel, durch die Menschen selbst gesetzt wird. Nicht die Geschichte hat einen Sinn – so zu fragen liegt auf der gleichen idealistisch-teleologischen Ebene wie vom „Sinn“ der Natur, des Universums etc. zu sprechen. Sinn, Ziel, Bedeutung von etwas setzt stets Sinngebung, Zielsetzung, Be-deuten-, auf gestellte Zwecke beziehen, voraus. Einen „höheren Sinn“ als menschliche Sinngebung kann nur erwarten, wer Natur und Geschichte auf ein „höheres“ als menschliches Wesen, einen jenseitigen göttlichen Zwecksetzer bezieht.

Mit dem Gottglauben fällt solche religiöse Rückbeziehung wirklicher Geschichte auf überwirkliche Zwecke. Die Wirklichkeit, Realität, Diesseitigkeit aller Zwecksetzung entspringt der Realität menschlicher gesellschaftlicher Ziele. Präziser: Was die Menschen ihren Handlungen als Ziel setzen, als Sinn geben ist so real, so realisierbar wie der aus der Erkenntnis der Gesetze dieses Handelns gewonnene, widergespiegelte und dieses Handeln damit zugleich normierende und mobilisierende objektive Inhalt als gewusste, als begriffene Tendenz. –

Nun wissen wir als Resultat der marxistisch-leninistischen Untersuchung vorsozialistischer Ideologien – deren spezifisch Ideologisches gerade auch darin liegt, dass sie Normen für gesellschaftliches Verhalten ausbilden –, wir wissen aus dieser Analyse, dass die von ihnen formulierten Ziele, die von ihnen entwickelten Werte die wirklichen Zusammenhänge, in denen geschichtliches Handeln sich bewegt, verkehrt abbilden. –

Insbesondere erfassen sie nicht die geschichtlichen Beziehungen materialistisch als Verhältnisse der materiell produzierenden Menschen selbst. Das fällt zusammen mit der idealistischen und religiösen Verkehrung eben dieses Verhältnisse in „naturgemäße“, gottgewollte, vernunftgegebene etc. Gleichwohl sind sie Widerspiegelung realer Verhältnisse, falsches Abbild, dessen Verkehrtheit – ganz generell – die „Verkehrtheit“, die unbegriffene Widersprüchlichkeit vorsozialistischer Gesellschaftsentwicklung wiedergibt.

Ferner: trotz ihrer Verkehrtheit haben diese Ziele geschichtliche Wirksamkeit entfaltet. Sie konnten revolutionäres Handeln aktivieren. Dies gilt etwa für solche frühbürgerlicher Ideologie ausgebildeten Wertbegriffe wie Freiheit, Gleichheit, Vernünftigkeit, Humanität. Sie mobilisierten progressive antifeudale Aktionen. Und sie erwiesen sich nach etablierter kapitalistischer Herrschaft als ebenso viele Unwerte, bar jeden Sinns für die Masse der Menschen, die die bürgerliche Revolution durchgeführt haben, das werktätige Volk. –

Die Realität der kapitalistischen Gesellschaft setzt an die Stelle feudaler Abhängigkeit die kapitalistische Unfreiheit, Kapitalabhängigkeit der produktiven Arbeit, an die Stelle feudaler Hierarchie die totale Ungleichheit zwischen der Masse der Lohnarbeiter und der Minderheit der Kapitalbesitzer etc.

Die genannten Wertvorstellungen, auf die Bedürfnisse des imperialistischen Herrschaftssystems „umfunktioniert“, werden in der kapitalistischen Welt von heute verbreitet, um reaktionäres, aggressiv- antikommunistisches Verhalten zu mobilisieren: Verteufelung des Sozialismus zu einer Welt der Unfreiheit [- bis zum vorläufigen weltweiten Ende des historischen Real-Sozialismus], der reproduzierten Ungleichheit, des Verlustes der Humanität und Verschleierung der spätkapitalistischen Ausbeuterordnung zu einer Gesellschaft „freiheitlich-demokratischen“ Typs ist ein Hauptgeschäft imperialistischer Ideologieproduktion geworden.

Daraus erhellt: nicht die Gesellschaft, auch nicht das aus seinem gesellschaftlichen Zusammenhang isolierte menschliche Individuum, gibt geschichtlichem Handeln Sinn. Erstere Auffassung abstrahiert ebenso wie letztere vom Entscheidenden: Sinngebung ist stets ein ideologischer Vorgang der Formierung von Klassenbewusstsein und Klassenzielen. Daraus aber folgt weiter: Jede auf Klassenantagonismen beruhende Gesellschaft bildet einander ausschließende Wert- und Normensysteme aus. Die Werte bürgerlicher Ideologie sind ebenso viele Unwerte für die Arbeiterklasse. –

Und für die ganze Epoche des revolutionären Befreiungskampfes dieser nKlasse [Arbeiterklasse] gilt: Die Ziele, die sie verfolgt, den Sinn, den sie ihrem revolutionären Handeln gibt, die Werte, die sie erstrebt, sind gegen die Normen und Werte, die in der bürgerlichen Gesellschaft als Klassenideologie der Bourgeoisie herrschen, gerichtet. –

Ihre oberste humanistische Norm ist zunächst nichts anderes als die Norm, dieses System der Ausbeutung und Erniedrigung des arbeitenden Menschen zu stürzen. Es sind Werte der revolutionären Aktion selbst, kämpferische antikapitalistische Normen.

Der höchste Sinn des Handelns der Arbeiterklasse erfüllt sich auf dieser Stufe ihrer Entwicklung im Klassenkampf gegen die Kapitalistenherrschaft – die sozialistische Ideologie als System revolutionärer Normen weist Weg und Ziel. Die [zukünftige] sozialistische Gesellschaft entwickelt auf der Grundlage ihrer gänzlich neuen sozialen Lebensgesetze, ihrer gesamtgesellschaftlichen humanistischen Zielsetzung ihre neuen ethischen Werte, ihre neuen Verhaltensnormen als Ausdruck und Regulativ ihres ökonomischen Grundvorgangs, der sozialistischen Arbeit, der Entwicklung der sozialistischen [sozial-ökonomisch-ökologisch-emanzipatorischen] Produktionsverhältnisse. Die Klassenziele der Arbeiter werden in einem widerspruchsvollen Entwicklungsprozess zu Normen der ganzen sozialistischen Gesellschaft. Die ethischen Werte der sozialistischen Gesellschaft entfalten sich durch die Führungstätigkeit der marxistisch-leninistischen Partei zu massenhaft angeeigneten Normen des Verhaltens. In ihnen ist die charakteristische sozialistische Sinngebung des individuellen und Gemeinschaftslebens der Menschen im Sozialismus eingeschlossen. Es erwächst eine neue ethische Qualität der materialistisch-dialektischen Weltanschauung und eine neue Dialektik vom objektiven Gesetz und gesellschaftlicher Bewusstheit.

Die Verwirklichung der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie und der revolutionäre Aufbau des [zukünftigen sozial-ökonomisch-ökologisch-emanzipatorischen Real-] Sozialismus enthält als eines seiner wesentlichen Momente die Umwälzung aller bisherigen Werte, gibt dem menschlichen Leben einen geschichtlich neuen Sinn, ja ermöglicht überhaupt erst das bewusste Ineinssetzen von individueller Sinngebung und gesamtgesellschaftlichem Prozess.

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Als letzte Frage hatten wir schließlich am Beginn dieses Kapitels die philosophische Grundfrage nach dem Verhältnis von Materie und Bewusstsein gestellt. Ehe wir ihr uns unter dem Gesichtspunkt „Materialismus und Revolution der Arbeiterklasse“ näher zuwenden, sei nur soviel festgehalten: Keine der eben formulierten ersten Antworten auf eine Reihe weltanschaulicher Fragen ist außerhalb des Materialismus wissenschaftlich und im Geiste sozialistischer Parteilichkeit möglich.

Die Parteinahme für die Arbeiterklasse und den Sozialismus enthält als oberste philosophische Norm den Materialismus, den Materialismus auf dialektischer Entwicklungshöhe, wie ihn Marx und Engels begründeten, un wie ihn Lenin für die Bedingungen unserer Epoche entwickelt hat. Wie wenig sich der Materialismus in einigen wenigen, „dürren Dogmen“ erschöpft – was von der spätbürgerlichen Marxismusfälschung ebenso wie vom modernen Revisionismus unablässig unterstellt wird das wird an der näheren Ausführung der eben skizzierten weltanschaulichen Grundthemen zu belegen sein.

Der marxistisch-leninistische Materialismus, das ist der philosophisch reichste, sozialtheoretisch konkreteste, politisch einzig gründlich revolutionäre Standpunkt.

Wir haben bislang eher Grundaussagen, elementare philosophische Wahrheiten des Marxismus-Leninismus formuliert, als sie in ihrem inneren theoretischen Zusammenhang entwickelt. In den nachfolgenden Kapiteln soll versucht werden, von diesen „Abstrakta“ zum Konkretum der Revolutionstheorie aufzusteigen. Der innere Zusammenhang der genannten weltanschaulichen Grundpositionen wird sich für die Entwicklung der Theorie der Arbeiterklasse wesentlich aus ihrer Funktion für die Revolutionstheorie ergeben

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975.

Studie von Otto Finger. Vgl.: 1.8. Gesetz und Handeln, in: 1. Kapitel: Weltanschauung, „moderne“ Anthropologie, revolutionäres Denken.

10.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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