Ich wurde befreit, indem ich in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet

20. April 1945, irgendwo, in einem Wald versteckt im Umland der Stadt Schwedt. Dort, an den Laternenmasten über die Oderbrücke, hatte ich sie hängen sehen, deutsche Soldaten, ganz junge und alte, mit einem Schild um den Hals: ‚Ich hänge hier, weil ich Führer, Volk und Vaterland verraten habe’, aufgeknüpft von der deutschen Waffen-SS oder den ‚Kettenhunden’ (Feldgendarmerie). Ich, gerade 18 Jahre alt, 10 Jahre faschistische Schule mit ihrer nationalistisch-rassistischen Indoktrination hinter mir, die ich aber immer mit recht kritischem Abstand verfolgt hatte, war nun Soldat in einer Flakbatterie, jetzt aber nicht zur Abwehr von Fliegern, sondern zum Erdbeschuss gegen die Panzer der Sowjetarmee. Mich hatte der Batteriekommandeur in ein Erdloch hinter ein Flak-MG zum Schutz gegen Tiefflieger gesteckt. Die hüpften bald über die Baumwipfel und der ‚Chef’ tobte, warum ich nicht schösse. Ich hatte aber nur Leuchtspurmunition in den Magazinen, wofür ich ja nun wirklich nicht verantwortlich war. Die Folgen waren verheerend. Neuer Anflug der sowjetischen Mig, zerstörte Geschützstände, getötete ‚Kameraden’. Der ‚Chef’ ließ mich sofort in den Bunker stecken, weil ich angeblich den Standort der Batterie verraten hätte, mit dem Befehl, mich der nächsten Streife der Feldgendarmerie zu übergeben. Da hatte ich sogar noch Glück, dass er mich nicht gleich vor Ort erschießen ließ, was er sich aber wohl doch nicht traute. Zwei Stunden später wurden die Reste der Batterie gesprengt. Mich holte man aus dem Bunker wieder heraus, drückte mir das MG erneut in die Hand mit dem Befehl, mich „im Kampfe bewähren“ zu sollen. Eine heillose Flucht begann…

Chaotische Rückzugsgefechte, dazwischen die Flüchtlingstrecks aus den ehemaligen besetzten Ostgebieten und aus Schlesien, irrsinnige Befehle, gejagt von den Truppenverbänden der Sowjetarmee, mal von vorn, mal von hinten, mal von der Flanke Feuerüberfälle der Katjuschas (oder der ‚Stalinorgel’, wie sie damals genannt wurden), totale Auflösung, auch der Moral, die blanke Angst im Genick, was denn die ‚Bolschewiken’ mit einem anfangen würden, wenn man in ihre Gefangenschaft geriet…

1. Mai 1945, früher Morgen: Wir waren am Rande des Kleinstädtchens Mirow angelangt, hatten uns in einer leicht hügeligen Landschaft in Schützenlöchern eingegraben, Gefechtslärm ringsum… Da tauchten sie plötzlich vor mir auf, kaum 15 Meter von mir entfernt, ebenso blutjunge Burschen wie ich mit der gleichen Todesangst im Gesicht. Die sahen ja aus wie meine Schulkameraden. Ich hätte mein Maschinengewehr nur abdrücken müssen ohne zu zielen und sie wären umgefallen. Ich konnte es einfach nicht, ich konnte nur wie besessen mein Maschinengewehr greifen und wie ein Hase im Zickzack um den Hügel herum ausreißen. Auch die hätten nur abdrücken müssen ohne zu zielen und ich wäre umgefallen. Die konnten es wohl auch nicht… flüchten, rennen, flüchten…

Es muss wohl der dritte Mai gewesen sein, als ich gemeinsam mit noch ein paar anderen ‚versprengten’ Soldaten in dem kleinen Dörfchen Benzin bei Lübz angelangt war. Die Bewohnerinnen eines Gehöfts, nur junge Frauen mit ihren kleinen Kindern hatten, uns die Übernachtung in ihrer Scheune gestattet. Am Morgen beschworen sie uns, so schnell wie möglich ihr Gehöft zu verlassen. Mitten auf dem Dorfplatz stand ein kleines Vorkommando sowjetischer Soldaten. Einer von ihnen, sicher nur wenig älter als ich, schlug mir fast freundschaftlich seine Hand auf die Schulter und rief mir über das ganze Gesicht strahlend zu: „Chitler kapuut, woina kapuut, challe nach haus!“ Ich kann sie nie vergessen, diese ersten Worte der sowjetischen Soldaten, die mich in ihre Mitte nahmen. Sie haben sich in mein Bewusstsein tief eingebrannt. Welch eine Absurdität: Meine Truppe hatte ich schon in Mirow verloren, das Maschinengewehr in irgendeiner Feldscheune entsorgt. Nur nach Hause!! Das war lebensgefährlich. Unbewaffnet aber noch uniformiert lief ich Gefahr, einer Streife der Feldgendarmerie in die Arme zu laufen. Das hätte ohne Pardon nur eins bedeutet: erhängen oder erschießen. Es war ja immerhin noch Krieg, noch 5 Tage. Ich weiß nicht wie viele tausende in diesen 5 Tagen der Agonie des faschistischen Systems noch zum Opfer fielen. Aber jetzt, „gefangen“ genommen war ich plötzlich „sicher aufbewahrt“. Natürlich ging es nicht nach Hause, aber die Botschaft in diesem Ruf: Es ist endlich vorbei, diese Apokalypse! Und in jedem Kopf der gefangenen deutschen Soldaten geisterte die Frage: Was wird jetzt mit uns passieren? Wehe uns, wenn die mit uns das tun, was deutsche Armeen ihnen und ihren Familien in ihrer Heimat angetan haben! Man kann sich heute diese Situation kaum vorstellen: Eine siegreiche Sowjetarmee, die kaum wusste, wie sie ihre eigenen Soldaten versorgen sollte, denn deren Hinterland war durch den Krieg total verwüstet, hatte plötzlich die Last von zehntausenden deutschen Gefangenen auf dem Hals. Wo mit denen hin? Wie die versorgen? So zogen die Kriegsgefangenenkolonnen tagelang kreuz und quer durch das Land, täglich 20 oder 25 Kilometer bis zu irgendeinem Lagerplatz irgendwo an einem Teich der Mecklenburger Seenplatte. Der Mai 1945 hatte extreme Witterungsbedingungen, tagsüber sommerlich heiß und nachts bitterkalt mit eisigen Bodenfrösten. Überall an den Straßen und in den Wäldern verwesende Leichen und Tierkadaver, die niemand bestattete, die Luft geschwängert mit dem süßlichen Dunst von Aas; Bäche, Flüsse, Seen, Brunnen verseucht, wer daraus trank, riskierte im günstigsten Falle eine kräftezehrende Ruhr, meist das Leben – und das nach mörderischen Schlachten. So trotteten wir Tag für Tag erschöpft und vollkommen am Ende durch die Landschaft, bewacht von bewaffneten sowjetischen Soldaten, bis wir schließlich in einem bereits weit überfüllten Gefangenenlager, einem ehemaligen Schulgebäude in Stargard (jetzt Szczecinski), anlangten. Und da geschah etwas für mich damals Unfassbares.

Jeder Raum dieses sehr großen Schulgebäudes war bis zum Bersten mit Gefangenen gefüllt und weil der Platz nicht ausreichte, lagerten noch viele – immer in 30er Gruppen eingeteilt – auf dem weiträumigen Schulhof. Dumpf-brütende Atmosphäre, tiefste Resignation, einmal am Tag einen halben Liter Kartoffelflockensuppe mit einem Kanten Brot. Da wurden wir plötzlich – immer mehrere Gruppen – in die Aula dieses Schulhauses gedrängt. Auf der Bühne ein Offizier der Sowjetarmee, der in einem recht gut verständlichen Deutsch zu uns sprach, keine Propagandarede, nein, der las uns vor – Heinrich Heine „Deutschland, ein Wintermärchen“. Zum ersten mal in meinem Leben erfuhr ich von sowjetischen Soldaten, dass es einen deutschen Dichter Heinrich Heine gab. Aber von welchem Deutschland sprach denn dieser mir völlig unbekannte Heine? Zum ersten mal erfuhr ich, was deutsche Schriftsteller – Heinrich Mann und Thomas Mann – uns aus ihrer Emigration zu sagen hatten, vorgetragen von einem Kulturoffizier der Sowjetarmee. Zum ersten mal fiel der Name Anna Seghers und der Titel ihres Romans „Das siebte Kreuz“. Es gab also ein ganz anderes Deutschland, von dem ich bis dahin noch nie gehört, höchstens geahnt hatte… und das in einem Kriegsgefangenenlager der Sowjetarmee. Nichts da von „bolschewistisch-jüdischem Mischmasch“, wie es ein Hitler und ein Goebbels einmal in die Welt posaunt hatten. Und da fanden sich unter den Gefangenen plötzlich auch zwei oder drei Künstler, die Texte vortragen konnten, völlig unbekannte Texte, aber auch aus Goethes „Faust“, und die Lieder singen konnten…

Natürlich ging das nicht lange so, zwei, drei Wochen vielleicht. Den ganzen Sommer und Herbst wurde ich in den inzwischen von Polen besetzten ehemaligen deutschen Ostgebieten zur Einbringung der Ernte eingesetzt, die bitter benötigt wurde. Täglich, egal ob Werk-, Sonn- oder Feiertag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bei sehr karger Kost harte Arbeit, ständig Wachtposten im Genick, die mal wegschauten, wenn man sich eine Verschnaufpause gönnen wollte oder auch mal mit dem Kolben zuschlugen, wenn sie meinten, die deutschen Faulenzer antreiben zu müssen, mal so und mal so, oft auch abhängig davon, was dieser oder jener Wachtposten im Krieg selbst erlebt oder wer von seiner Familie in der Heimat überlebt hatte. Aber – und das sei ausdrücklich betont – ich habe nie sowjetische Wachtposten oder deren Befehlshaber erlebt, die gegen uns Gefangene mit Gewalt vorgegangen wären, obwohl mancher der Gefangenen auch in dieser Lage nichts gelernt hatte und seine faschistische Gesinnung kaum verbergen konnte. Glückliche Umstände (wenn man eine schwere Erkrankung so nennen darf) führten dazu, dass ich bereits Weihnachten 1945 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause entlassen wurde.

Ich kam mir wie ein ‚Überlebender’ vor. Meinen Nachfahren mag das alles banal erscheinen. ‚Glück gehabt’, so könnte man sagen, und das war’s dann. Für mich war es mehr, sehr viel mehr. Das alles nicht nur äußerlich an sich vorbei ziehen zu lassen, sondern mit meinem ganzen Fühlen und Denken zu verarbeiten, das forderte buchstäblich dazu heraus, mein ganzes bisheriges (wenn auch kurzes) Leben zu überdenken, besonders die weltanschaulichen Positionen, Maßstäbe und Werte des menschlichen Daseins zu überprüfen. Das konnte ja nicht nur heißen, rückwärts zu schauen, sondern besonders vorwärts zu denken und zu planen und zu handeln. Und dazu musste alles auf den Prüfstand des Lebens gestellt werden: die Religion (da ursprünglich ja mal sehr christlich erzogen) und die Gläubigkeit, die überkommenen Lehren der Geschichte, die Wertmaßstäbe des Zusammenlebens in der Familie, der Gemeinde, der Gesellschaft und ihren Strukturen bis hin zur Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem eigenen Platz in der Natur, in der Familie, der Gemeinde und der Gesellschaft. Es mag sonderbar erscheinen, dass sich einer mit inzwischen 19 Jahren mit solchen Fragen und Themen herumschlägt. Aber ohne das Erlebnis dieses ‚Überlebens’ wäre ich vielleicht nie auf solche Fragen und Problemstellungen gestoßen, und das in einer Zeit, wo unvorstellbare Not und ein chaotisch zusammengebrochenes, fast anarchisches Gesellschaftsgefüge fast alle Normen des Zusammenlebens zerstört hatte. Die alles durchdringende Devise lautete: Rückwärts nimmer, vorwärts immer! Bloß wie vorwärts und wohin vorwärts und mit wem vorwärts… und gibt es überhaupt noch ein Vorwärts? Das war die Zeit, in der mit vollem Bewusstsein aufgenommen und gewünscht und gehofft wurde: „Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur selber tun!“ Und das wurde die Zeit, in der in einer neuen Jugendbewegung, der Freien Deutschen Jugend, das Lied geboren wurde: „Das neue Leben muss anders werden, als dieses Leben, als diese Zeit. Da darf’s kein Hungern, kein Elend geben. Packt alle an, dann ist es bald soweit!“ Dort war von da an mein Platz. So wurde ich befreit, ja auch Dank sowjetischer Gefangenschaft. Und diese Befreiung wurde zur lebensbestimmenden Zäsur meines Lebens.

Georg Dorn

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