Lenin über eine philosophische Grundidee von Marx

von Otto Finger

Lenins erste philosophische Schrift, die im Jahre 1894 abgefasste Arbeit „Was sind die ,Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die [emanzipatorisch-revolutionären] Sozialdemokraten?“ Nimmt ein philosophisches Hauptthema aus der Genesis der Marxschen Revolutionstheorie wieder auf. Es ist der Materialismus, speziell der Gegensatz der materialistischen Gesetzesauffassung zum geschichtsphilosophischen Subjektivismus und Idealismus. Selbstredend nicht in der Form eines unmittelbaren Rückgriffs auf die Werke aus der Entstehungsgeschichte des Marxismus (die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ und die „Deutsche Ideologie“ sind erst nach Lenins Tod publiziert worden). Vielmehr steht der Leninismus theoretisch auf dem Fundament der ganzen, durch das „Kommunistische Manifest“ eingeleiteten Entwicklung des reifen Marxismus. Dazu gehört auch die Vertiefung der Revolutionstheorie im „Kapital“, in Marx’ Arbeiten zur Pariser Kommune von 1871, in solchen, die innere Systematik der materialistisch-dialektischen Weltanschauung herausarbeitenden Werken von Engels wie der „Anti-Dühring“ und „Ludwig Feuerbach …“ Diese reifen Werke freilich setzten die philosophisch-ideologische Grundlinie der frühen Werke auf höhere Stufenleiter, um neue praktische Erfahrungen und theoretische Einsichten bereichert, fort. Der Entwicklungszusammenhang zwischen Marxismus und Leninismus – eingeschlossen die Theorie der Revolution – umgreift daher auch, und entgegen dem heutigen Antileninismus – das Marxsche und Engelssche Frühwerk.

In den vierziger Jahren bildete die Marxsche und Engelssche Kritik an der Elitetheorie, am volksverachtenden Kult des „kritischen Selbstbewusstseins“ im Junghegelianismus einen Knotenpunkt für die Gewinnung materialistisch-philosophischer Grundlagen der Theorie der sozialistischen Revolution (vgl. das 4. Kapitel). Lenin muss in den neunziger Jahren eine theoretisch ganz ähnliche Aufgabe lösen: die Zerschlagung der subjektiv-idealistischen und antiproletarischen Geschichtstheorie der russischen Volkstümler. Freilich handelt es sich nunmehr bereits darum, den dialektischen und historischen Materialismus, der in Westeuropa in der Arbeiterbewegung gesiegt und entscheidende historische Bewährungsproben längst bestanden hatte, zu verteidigen und für ganz neue historische Bedingungen weiterzuentwickeln. Es sind generell Bedingungen des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus, spezieller aber Bestimmungen der Verlagerung des Zentrums der revolutionären Aktivität von Westeuropa nach Russland. [1/17]

Lenin hat im „Materialismus und Empiriokritizismus“ die Grundlinie des philosophischen Denkens von Marx und Engels und die entscheidende nphilosophische Basis all ihrer theoretischen Leistungen so gekennzeichnet:

Die Genialität von Marx und Engels liegt gerade darin, dass sie im Laufe einer sehr langen Periode, fast eines halben Jahrhunderts, den Materialismus weiterentwickelt, die eine philosophische Grundrichtung vorwärtsgetrieben …, dass sie gezeigt haben, wie man denselben Materialismus auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften durchsetzen muss …“ [2/18] –

In allen Werken von Karl Marx findet sich ein unveränderliches Grundmotiv: Verteidigung des Materialismus und verächtlichen Spott über jede Vertuschung, jede Konfusion, alle Abweichungen zum Idealismus hin. Um diese beiden grundlegenden Gegensätze drehen sich sämtliche philosophische Bemerkungen von Marx … Ganz im Geiste von Marx und in enger Zusammenarbeit mit ihm stellt Engels in all seinen philosophischen Arbeiten kurz und bündig in allen Fragen die materialistische und die idealistische Linie einander gegenüber …“ [3/19]

Diese Charakteristik trifft voll und ganz auch für Lenins theoretisches Werk zu. Er erweist sich als genialer Fortsetzer der theoretischen Leistungen von Karl Marx und Friedrich Engels zunächst gerade dadurch, dass er in allen Fragen der Philosophie – der Gesellschaftsauffassungen ebenso wie der Erkenntnistheorie, der dialektischen Methode ebenso wie der Ethik und Naturerklärung – den Materialismus verteidigt, ihn „vorwärtstreibt“, die Unversöhnlichkeit jeder idealistischen Abweichung mit der Wissenschaft nachweist, den Materialismus in neuen politischen und ideologischen Frontstellungen durchsetzt, ihn um neue nweltanschauliche Züge bereichert. Das erste umfassende Dokument genau dieses Wesenszuges der Leninschen philosophischen Arbeit ist das Werk zur Kritik der Ideologie der Volkstümler.

Der unauflösliche Zusammenhang zwischen dem Leninismus und dem Marxismus drückt sich bereits in dieser Schrift in beiden Hauptmomenten aus: In allgemeinster philosophischer Hinsicht ist es der moderne, dialektische Materialismus; in allgemeinster politischer Hinsicht ist es der Klassenstandpunkt der sozialistischen Revolution. Ebenso wie für die Periode der Herausbildung des Marxismus können wir für die Periode der Herausbildung des Leninismus dies festhalten: Marx, Engels und Lenin verteidigten den Materialismus gegen jede idealistische Philosophie niemals nur aus immanent wissenschaftlichen Gründen, sondern primär deshalb, weil der Materialismus fähig ist, die praktische Revolution der Arbeiterklasse zu begründen.

Lenin eröffnet die Kritik der Ideologie der Volkstümler mit der Klarstellung der „Grundidee“ des Marxschen Hauptwerkes, des „Kapitals“. Lenin hebt hervor, dass sie in nichts anderem als in folgendem besteht: im Marxschen „Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturwüchsigen Prozess auffasst“ [4/20]

Die Hervorhebung des Marxwortes von der Entwicklung einer Gesellschaftsformation als eines naturgeschichtlichen Prozesses geschieht, um eine Marxsche Hauptleistung als Durchführung des philosophischen Materialismus zu kennzeichnen. Diese Hauptleistung ist die Begründung der Wissenschaft von der Gesellschaft. Der Weg von der Spekulation über die Gesellschaft zur Gesellschaftswissenschaft hat hierin ihren Angelpunkt.

Der Ausdruck „naturgeschichtlicher Prozess“ markiert Grundtatsachen allen gesellschaftlichen Lebens: Erstens ist es ein primär materieller Lebensprozess. Zweitens ist er an Naturbedingungen gebunden. Drittens wird er – wie jeder Naturvorgang – von objektiven Gesetzen beherrscht. Viertens liegt die Objektivität der sozialen Entwicklungsgesetze darin begründet, dass sie sich sowohl als Gesetze des gegenständlichen Stoffwechsels der Menschen mit der Natur, als Gesetze materieller Produktion durchsetzen als auch als Gesetze, die bestimmt sind von den historisch gewordenen sozialen Produktionsbedingungen.

Marx akzentuiert so seinen Materialismus als das gerade Gegenteil jeder Art von „Erzeugungstheorie“, der theologischen Annahme eines überhistorischen „Demiurgen“ und auch der subjektiv-idealistischen Verwandlung des menschlichen Subjekts in einen voraussetzungslosen „Schöpfer“ seiner selbst.

Zur Kennzeichnung der letztgenannten Seite des Begriffs „Naturgeschichtlichkeit“ verwendeten Marx und Engels häufig auch den Ausdruck „Naturwüchsigkeit“. Sie verstehen darunter nicht bloß den entfremdeten und entfremdenden Charakter der Produktion in der in feindliche Klassen gespaltenen Gesellschaft. Er bezeichnete auch die Tatsache, dass jede Epoche, jede Gesellschaftsformation und jede Generation in objektive soziale Bedingungen ihres Handelns hineingestellt ist, die sie vorfindet, die sie nicht selbst erzeugt, sondern die das Erzeugnis des Handelns und Produzierens ihrer Vorgänger ist. Es sind Bedingungen, die darum zunächst ebensowenig vom Willen und Bewusstsein der Menschen abhängen wie die äußeren Naturbedingungen ihrer Produktion. Um also eine ökonomische Gesellschaftsformation zu begreifen, um sie in ihren elementarsten Voraussetzungen erfassen zu können ist es notwendig, von den vier genannten materialistischen Bestimmungen, Bestimmungen des Begriffs „Naturgeschichtlichkeit“ auszugehen. Von ebenso elementarer Bedeutung sind diese Bestimmungen freilich auch, um eine wissenschaftliche Theorie der sozialistischen Revolution aufbauen zu können. Wir haben gesehen, dass die gesetzmäßige Notwendigkeit und der spezifische Charakter der sozialistischen Revolution durch Marx und Engels entwickelt werden konnte, indem sie aus den genannten Bestimmungen die Schlussfolgerungen für die Stellung und das revolutionäre Handeln der Arbeiterklasse zogen.

Als eine weitere elementare Seite der Grundidee des „Kapitals“ hält Lenin die folgende fest: Karl Marx konzentriert sich in seinem Hauptwerk auf die Untersuchung einer einzigen Gesellschaftsformation, nämlich der kapitalistischen. –

Lenin weist mit aller Entschiedenheit die Verwandlung dieser konkret-historischen – und darum auch konkret-revolutionären – Analyse in ein spekulatives geschichtsphilosophisches Abstraktum zurück. –

Lenin klärt eine entscheidende Seite des Gegensatzes der marxistischen als wissenschaftlicher zur nichtmarxistischen als unwissenschaftlicher Sozialtheorie dadurch, dass er letztere in ihrer überhistorischen Abstraktheit aufweist. In der Sozialtheorie spekulativ vorgehen, das heißt nach Lenin zunächst nichts anderes, als von den konkreten sozialökonomischen Verhältnissen zu abstrahieren, in denen jede Gesellschaft existiert, in denen jede wirkliche Gesellschaft als ökonomische Gesellschaftsformation erscheint. –

Die „alten“, d. h. die bürgerlichen Ökonomen und Soziologen würden den Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation für überflüssig halten:Sie reden von der Gesellschaft schlechthin, streiten mit den Spencerianern darüber, was die Gesellschaft allgemein darstelle, worin Zweck und Wesen der Gesellschaft im allgemeinen bestehe u. dgl. m. Bei derlei Betrachtungen stützen sich die subjektiven Soziologen auf Argumente solcher Art, dass der Zweck der Gesellschaft darin bestehe, allen ihren Mitgliedern Vorteile zu bringen, die Gerechtigkeit erfordere daher eine ganz bestimmte Organisation, und eine Ordnung, die einer solchen idealen Organisation … nicht entspricht, sei anormal und müsse beseitigt werden.“ [5/21]

Lenin zitiert die Worte eines Hauptvertreters der antimarxistischen Publizistik der Volkstümlerrichtung, Michailowskis, wonach die Soziologie mit einer „gewissen Utopie“ [6/22] beginnen müsse und ihre Aufgabe darin bestehe, die sozialen Verhältnisse zu klären „unter denen dieses oder jenes Bedürfnis der menschlichen Natur befriedigt wird“ [7/23]. Ferner zitiert Lenin Michailowskis Bestimmung der Soziologie als einer Methode, die Bedingungen für sozial „Wünschenswertes“, für die Verwirklichung von „Idealen“ zu finden. Schließlich die Idee, dass es in der Geschichte zu „Defekten“ gekommen sei, weil eben diese Bedingungen nicht bekannt gewesen seien.

Die Angriffspunkte der Kritik sind von mehr als nur historischem Interesse. In ihnen sind Grundvorstellungen auch zeitgenössischer bürgerlicher Soziologie und Geschichtsphilosophie getroffen. Was Lenin als die „subjektive Methode in der Soziologie“ oder kurz als „subjektive Soziologie“ bezeichnet, ist repräsentativ sowohl für ihren philosophischen Grundzug als auch für ihr methodologisches Grundgebrechen. Sie bestehen in einem solchen idealistischen Subjektivismus, der erstens in die wirkliche Gesellschaftsgeschichte das falsche Bewusstsein und die Wunschbilder der bürgerlichen Klasse projiziert und zweites glaubt, diese Wunschbilder mittels Soziologie realisieren zu können.

Die theologische und utopisch-idealistische Spekulation über den „Zweck der Gesellschaft“, über den „Vorteil“ der Gesellschaft für ihre Glieder, über die „Gerechtigkeit“ als Motiv für Umgestaltungen, über eine „ideale“ Organisation der Gesellschaft sind solche durch und durch bürgerlich ideologischen Vorstellungen und Begriffe. In ihnen wird das reale Klasseninteresse der Bourgeoisie an einer möglichst störungsfreien funktionierenden kapitalistischen Profitwirtschaft idealistisch zum „Zweck“ der Geschichte und Inbegriff der „menschlichen Natur“ mystifiziert.

Die Unmöglichkeit, aus ihnen die Theorie der Geschichte konstruieren zu können, resultiert nicht allein aus der Unmöglichkeit, zur Wissenschaft von Gesellschaft über die idealistische Abstraktion von ihren wirklichen Verhältnissen zu gelangen. Sie ergibt sich auch aus der historisch nur höchst beschränkten realen Wirksamkeit der ihnen zugrundeliegenden wirklichen Klasseninteressen.

Vor allem – und hierin trifft die geschichtsphilosophische Spekulation Michailowskis vollständig mit der von uns mehrfach behandelten Tendenz des Philosophierens in der imperialistischen Welt von heute zur Anthropologisierung zusammen – geht es um die Illusion, im Ergebnis des rechten Begriffes von der „menschlichen Natur“ die Gesellschaft ändern zu können. Lenins Charakteristik der philosophischen Grundidee des „Kapitals“ als des materialistischen Standpunktes von der Naturgeschichtlichkeit der Entwicklung der sozialökonomischen Gesellschaftsformation erweist sich damit als fundamental für die Kritik heutiger bürgerlicher Sozialphilosophie. Und sie betrifft auch ihren gegenrevolutionären politischen Kern, sofern die Leugnung der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution auch heute theoretisch von der Leugnung der objektiven Gesetzmäßigkeit des Geschichtsverlaufs und der Behauptung einer über der realen Geschichte stehenden menschlichen Natur ausgeht

Anmerkungen

1/17 »Über die objektiven Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Leninismus – Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus, das Aufkommen des Opportunismus als internationale Erscheinung, die Rolle der russischen revolutionären Traditionen für die Formierung der proletarischen Bewegung in Russland, die Umwälzung des naturwissenschaftlichen Denkens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – vergleiche den 5. Band des sowjetischen Werkes zur Geschichte der Philosophie (in deutscher Übersetzung Berlin 1963 erschienen), Kapitel I, Abschnitt 1: „Die historischen Voraussetzungen der leninistischen Etappe der Entwicklung der marxistischen Philosophie und ihre charakteristischen Züge“; ferner: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Ausgabe 1969, deutsche Übersetzung Berlin 1971), Kapitel I „Der Beginn der Arbeiterbewegung und die Ausbreitung des Marxismus in Russland (1883–1894)“ und Kapitel II „Der Kampf für die Schaffung der marxistischen Partei in Russland. Die Gründung der SDAPR. Die Entstehung des Bolschewismus (1894–1904)“.«

2/18 W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 340.

3/19 Ebenda, S. 341 f.

4/20 W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“ und wie kämpfen sie gegen die [emanzipatorisch-revolutionären] Sozialdemokraten?, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 126. Lenin zitiert an dieser Stelle das Vorwort zur 1. Auflage des 1. Bandes des Kapitals; vgl. ebenda, S. 8.

5/21 Ebenda, S. 127.

6/22 »N. Michailowski gehörte mit Kriwenko, Woronzow, Jushakow zum bürgerlich-liberalen Flügel der russischen Volkstümlerbewegung während der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. In seinen geschichtsphilosophischen Aufsätzen vertrat er ein Gemisch aus subjektiv-idealistischen, positivistischen und biologistischen Theoremen, die Lenin als „subjektive Soziologie“ zusammenfasste. Vgl. hierzu auch die sowjetische Geschichte der Philosophie, Bd. 4. (Berlin 1962), S. 31 ff.

7/23 W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“…, S. 127.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 7.3. Lenin über eine philosophische Grundidee von Marx, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.

14.08.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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