German Foreign Policy – Das Ende einer Epoche (I)

 
12.09.2014

BERLIN
 – Außenpolitiker aus dem Bundestag fordern einen Bundeswehr-Einsatz im Irak gegen die Terrororganisation “Islamischer Staat” (IS). Wie der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Philipp Mißfelder, erklärt, schließe er eine deutsche Beteiligung an US-Luftschlägen gegen den IS “nicht aus”. Ein Fraktionskollege bringt einen Einsatz deutscher Militärs “im Rahmen von Überwachungsflügen” ins Spiel. Auch ein Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen lässt Sympathien für einen Bundeswehreinsatz gegen den IS erkennen. Eine etwaige Intervention deutscher Soldaten würde die Aufrüstung irakisch-kurdischer Truppen durch die Bundesrepublik und den Aufbau einer militärischen Kernpräsenz im nordirakischen Erbil ergänzen, der Ende August vollzogen worden ist. Experten urteilen, “die postkoloniale Übergangsepoche” im Nahen und Mittleren Osten gehe gegenwärtig “zu Ende, ohne dass sich bereits die Konturen einer neuen arabischen Ordnung abzeichneten”. Der Zerfallsprozess werde “aller Voraussicht nach noch lange anhalten”; er werde wohl in die Reduzierung Syriens auf den westlichen Teil seines Staatsgebiets, in die Dreiteilung des Irak oder auch die Zerschlagung Libyens in sechs oder noch mehr Teile münden. Mit dem Krieg gegen den IS tritt der Westen einmal mehr in die Kämpfe um die Neuordnung der Region ein.
 

Deutsche Kriegsbeteiligung
Mehrere Außenpolitiker aus dem Bundestag fordern einen Einsatz der Bundeswehr im Krieg gegen die Terrororganisation “Islamischer Staat” (IS). Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Philipp Mißfelder, erklärt, er schließe einen Kampfeinsatz deutscher Soldaten im Rahmen von “Luftschlägen nicht aus”. Auch die Ausbildung irakischer Soldaten durch die Bundeswehr halte er für vorstellbar. Lediglich Kampfeinsätze von Bodentruppen kämen nicht in Frage. Mißfelders Fraktionskollege Karl-Georg Wellmann spricht sich ebenfalls für eine deutsche Beteiligung an dem Krieg aus und plädiert explizit für “einen Einsatz deutscher Soldaten zur Luftaufklärung im Rahmen von Überwachungsflügen”. Gemeint sind AWACS-Flugzeuge, wie sie im nordrhein-westfälischen Geilenkirchen stationiert sind. Außerdem hat Omid Nouripour, ein Außenpolitik-Experte von Bündnis 90/Die Grünen, die Forderung nach der Entsendung deutscher Soldaten bestätigt, die er schon im August geäußert hatte.[1] Nouripour bringt “das Abwerfen von Hilfsgütern” in die Debatte: “Das kann die Lufthansa nicht, die Bundeswehr aber schon”.[2]
 

Militärische Kernpräsenz
Bereits bevor die Forderung nach ihrer Beteiligung am Krieg gegen den IS laut geworden ist, hat die Bundeswehr begonnen, eine erste militärische Kernpräsenz im Norden des Irak aufzubauen. Seit dem 27. August existiert ein “militärisches Verbindungselement mit sechs Soldaten”, das beim deutschen Generalkonsulat im nordirakischen Erbil eingerichtet worden ist. Offiziell haben die Soldaten, die dem Auswärtigen Amt unterstellt sind, “die Aufgabe, die weitere Hilfe Deutschlands vor Ort mitzukoordinieren” – also die “Abgabe von zivilen Hilfsgütern und militärischen Rüstungsgütern” zu organisieren.[3] Faktisch spielen sie bereits jetzt eine deutlich weiter gefasste Rolle. Sie regeln, wie ein Offizier aus Erbil berichtet, nicht nur “die Einweisung an der Ausrüstung” (Funkgeräte, Sturmgewehre) [4]; sie stehen darüber hinaus in engem Kontakt zu den irakisch-kurdischen Truppen und den Militärbehörden in Erbil. So haben sie etwa “einen guten Einblick in das sogenannte Peschmerga-Ministerium”, das man sich “wie ein Verteidigungsministerium der Autonomen Region Kurdistan vorstellen” könne, erklärt der Offizier [5]; außerdem verfolgten sie den Krieg gegen den IS vor Ort mit größter Aufmerksamkeit: “Das geschieht durch die täglichen Lagebesprechungen im Peschmerga-Ministerium”, heißt es in einem Bericht.[6]
 

Rüstungsexporte
Die Aufrüstung der irakisch-kurdischen Streitkräfte durch die Bundesrepublik, die die deutschen Militärs in Erbil begleiten, hat mittlerweile begonnen. Sie soll überwiegend über den Flughafen Leipzig/Halle abgewickelt werden, über den bereits US-Truppen in den Irak-Krieg geflogen wurden.[7] Die Transporte werden auch mit Hilfe des ukrainisch-russischen Joint Ventures “Ruslan Salis” abgewickelt, das seit 2006 militärische Transportflüge für die EU und die NATO durchführt; seine Tätigkeit wird durch den Konflikt mit Russland nicht eingeschränkt.[8] Das Volumen der Rüstungsausfuhr (german-foreign-policy.com dokumentiert die Lieferpläne hier) veranlasst Berliner Regierungsberater inzwischen, eine ausführliche Debatte über die Mittelostpolitik zu fordern. Die deutschen Waffen würden absehbar dazu beitragen, “das Machtgefüge in der Region zu verändern” – und “darüber müsste zumindest diskutiert werden”, erklärt Markus Kaim von der “Forschungsgruppe Sicherheitspolitik” der “Stiftung Wissenschaft und Politik” (SWP): Man müsse umgehend klären, “was unsere politische Ordnungsvorstellung für diese Region ist”.[9]
 

“Die tiefste Krise seit 1258”
Tatsächlich rechnen Experten mit weitreichenden Umwälzungen im gesamten Nahen und Mittleren Osten. “Die arabische Welt befindet sich in der tiefsten Krise seit dem Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert und der Zerstörung von Bagdad im Jahr 1258”, urteilt etwa der FAZ-Redakteur Rainer Hermann, ein renommierter Kenner des Nahen und Mittleren Ostens, in der aktuellen Ausgabe der DGAP-Zeitschrift “Internationale Politik”. Mit dem Zerfall von Staaten und der Auflösung der Grenzen in weiten Teilen der arabischen Welt gehe zur Zeit “die postkoloniale Übergangsepoche im Nahen und Mittleren Osten zu Ende, ohne dass sich bereits die Konturen einer neuen arabischen Ordnung abzeichneten”. Der gegenwärtige Aufruhr, der “lokal agierende zentrifugale Kräfte freigesetzt” habe, werde “aller Voraussicht nach noch lange anhalten”. Hermann schildert, wie unterschiedliche Ersatzstrukturen – religiöse Verbände, traditionelle Stämme oder lokale Warlords – im Irak, in Syrien oder in Libyen die Stelle der zerschlagenen Staaten einnehmen.[10] Dass der Autor es fertigbringt, den Totalzusammenbruch staatlicher Strukturen alleine inneren Spannungen in den betroffenen Ländern zuzuschreiben und die äußeren Faktoren von der Kooperation des Westens mit repressiven Eliten über die wirtschaftliche Ausplünderung bis zu den Angriffskriegen gegen den Irak und gegen Libyen ebenso auszublenden wie die das westliche Befeuern des Syrien-Krieges, ist bemerkenswert und liefert dem außenpolitischen Establishment Argumentationen, die von der eigenen Mitverantwortung für die Zustände in der Region ablenken.
 

“Sechs oder mehr Libyen”
Für die Zukunft rechnet Hermann damit, dass “Kriege und wechselnde Allianzen … eine neue politische Landkarte hervorbringen” werden. Möglicherweise werde es “statt einem Irak drei neue Staaten geben – einen schiitischen, einen kurdischen und einen sunnitischen, der sich bis auf das heutige Territorium Syriens erstrecken kann”. Bei Letzterem handelte es sich dann mehr oder weniger um das zur Zeit vom IS kontrollierte Gebiet. In Syrien werde “die bisherige Republik entlang der Achse Damaskus – Aleppo und entlang der Mittelmeerküste weiter bestehen”; “die Kurden” behielten ihre “Autonomie”, während eventuell auch “ein sunnitisches Rebellengebiet südlich von Damaskus” Bestand haben könne. “Libyen ist in den Grenzen des bisherigen Staates nicht zu halten”, schreibt Hermann; auch der Jemen “zerbricht in mindestens vier Teile”. “Weshalb soll es aber nicht drei Iraks geben, wenn der eine Irak nicht funktioniert hat?”, fragt der Autor: “Weshalb soll es nicht sechs oder mehr Libyen geben, wenn das eine Libyen nicht zusammengehalten werden kann?”[11]
 

Zerschlagungspläne
Die Überlegungen entsprechen Zerschlagungsplänen für den Nahen und Mittleren Osten, die schon 2006 in ultrarechten US-Militärkreisen vorgeschlagen [12] und im vergangenen Jahr kurz nach der Absage des angekündigten Überfalls auf Syrien von einer Publizistin erneut präsentiert wurden, die am staatsfinanzierten “United States Institute of Peace” tätig ist (german-foreign-policy.com berichtete [13]). (Bild: Ausschnitt aus der New York Times vom 28. September 2013.)
 

Ein langer Krieg
Der Kampf gegen die Terrororganisation IS werde “uns lange Zeit beschäftigen” [14], urteilt der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Philipp Mißfelder. Tatsächlich spricht manches dafür, dass die westlichen Staaten den Krieg nutzen wollen, um der Zerfallsmasse des von ihnen zerschlagenen Nahen und Mittleren Ostens eine “Ordnung” aufzuzwingen, die zumindest in den Grundzügen ihren Interessen in der Region Rechnung trägt. german-foreign-policy.com berichtet in der kommenden Woche über zentrale Elemente der Debatte.

[1] S. dazu Das feine Gespür der Öffentlichkeit.
[2] Stephan Haselberger, Dagmar Dehmer: CDU-Außenpolitiker schließen Beteiligung der Bundeswehr gegen IS nicht aus. www.tagesspiegel.de 11.09.2014.
[3] Irak: Militärisches Verbindungselement in Erbil eingerichtet. www.bundeswehr.de 27.08.2014.
[4] So kommen die Bundeswehr-Waffen zu den Kurden. www.bz-berlin.de 04.09.2014.
[5] “Direkt an die Peschmerga übergeben”. www.dw.de 04.09.2014.
[6] Bundeswehrsoldat in Erbil: “Die Peschmerga machen als Truppe guten Eindruck”. www.focus.de 10.09.2014.
[7] S. dazu In den Urlaub und In flagranti.
[8] S. dazu Dienstleister, Windiges… und Windiges aus der deutschen Luftfahrt.
[9] Martina Doering: “Das militärische Ziel ist nicht klar, das politische Ziel noch weniger”. www.berliner-zeitung.de 02.09.2014.
[10], [11] Rainer Hermann: Nach dem Staatszerfall. In der arabischen Welt zeichnet sich noch keine neue Ordnung ab. Internationale Politik September/Oktober 2014.
[12] S. dazu Schmutziges Geheimnis und Neue Staaten.
[13] S. dazu Von Kurdistan nach Alawitestan.
[14] Stephan Haselberger, Dagmar Dehmer: CDU-Außenpolitiker schließen Beteiligung der Bundeswehr gegen IS nicht aus. www.tagesspiegel.de 11.09.2014.
//