Das imperialistische Fäulnisstadium.

Produktionsverhältnisse und politische Macht

von Otto Finger

Die zuletzt genannte Seite der dialektischen Natur der Produktionsverhältnisse ist in den zitierten Belegen aus der „Deutschen Ideologie“ deutlich als das politische Wesensmerkmal der vorsozialistischen Produktionsverhältnisse ausgesprochen. Produktionsverhältnisse sind nicht nur und schlechtweg Verhältnisse des materiellen Produzierens, sondern Verhältnisse des politischen Handelns, der politischen Unterdrückung. Sie sind Grundlage für Herrschaft. Sie haben eine direkte politische Funktion: Eben diese Herrschaft zu sichern. Es ist mit Nachdruck zu betonen, was Marx und Engels in diesem Zusammenhang sowohl über das antike Gemeindeeigentum wie auch über das feudale Eigentum und seine Hierarchie festgestellt haben: Sie fungieren als politische Macht gegen die „beherrschte produzierende Klasse.

Eigentum ist damit nicht gleich Staat. Wohl aber bedeutet es politische Macht und ist es eine Macht gegen die Produzenten. Die wissenschaftlich-technische Revolution der Gegenwart bewirkt für sich genommen keineswegs die Sprengung des imperialistischen Herrschaftssystems. Vielmehr versucht die Monopolbourgeoisie auf der Basis des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln, die Errungenschaften dieses Prozesses für die Stabilisierung ihrer Herrschaft einzusetzen.

Es gehört dies zu den Methoden des [Finanz- und] Monopolkapitalismus, sich den heutigen gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Deutlich wird hierdurch, in welch potenzierten Maßstäben für den modernen Kapitalismus gilt, was Marx und Engels bereits bei der Untersuchung der vorkapitalistischen Formationen entdeckten: Die Eigentumsverhältnisse sind die entscheidende Basis für die Ausübung politischer Macht. Wobei die Brutalität, mit der diese Macht ausgeübt wird, allerdings nichts weniger als ein Zeichen der Stärke der Ausbeuterklassen und der Stabilität ihres Wirtschaftssystems ist. Vielmehr widerspiegelt dies stets die sich zuspitzenden sozialen und Klassenwidersprüche.

Die Feststellung von den Produktionsverhältnissen als Mächten gegen die Produzenten ist aktuell. Sozialreformistische Ideologen wollen in stets neuen Varianten glauben machen, dass dies nicht zuträfe. Wir haben auf typische Argumente hierfür schon hingewiesen (vgl. z. B. Kap. 1). Im Lichte der skizzierten Marxschen und Engelsschen Erkenntnisse ist zu fragen: Aus welchen unerfindlichen Gründen soll denn ausgerechnet für das imperialistische Fäulnisstadium des Kapitalismus, die geschichtlich höchste und letzte Konzentration des Privateigentums an Produktionsmitteln, so etwas wie ein sozialökonomisches Ausnahmegesetz eintreten? Wie soll es plötzlich geschehen, dass die Produktionsverhältnisse nicht mehr die Basis für die Macht der herrschenden Ausbeuter gegen die Produzenten sind? Ein ganz unverdächtiger Zeuge für die Absurdität der gefährlichen Vorstellung von der Harmlosigkeit des monopolkapitalistischen Eigentums ist der amerikanische Soziologe Rudolf Heberle. Er zeigt, dass die Managersie dienen sozialreformistischen Ideologen als Garanten für die Ablösung der Übermacht der Eigentümer – Heberle zeigt also, dass die Manager, die Experten, die ganze Schicht jener Angestellten, die die Bewegung des modernen Kapitalismus organisieren, nicht mehr und nicht weniger sind als Funktionäre der Kapitalistenklasse. [1/208]

Die Produktionsverhältnisse sind kein lebloser, inaktiver Reflex der Produktivkräfte. Was bislang zur aktiven Rolle der Produktionsverhältnisse entwickelt wurde, ist durch einen weiteren wesentlichen Gesichtspunkt der „Deutschen Ideologie“ zu ergänzen. Marx und Engels weisen anlässlich einer Charakteristik des Wesentlichen ihrer ganzen neuen Geschichtsauffassung auf folgendes hin: Sie gehe von der wirklichen, materiellen Produktion aus, entwickle von daher die von der Produktion erzeugten Produktionsverhältnisse sowie die politische Struktur der Gesellschaft und ihren ideologischen Überbau. Dann aber müsse „… die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiedenen Seiten aufeinander) dargestellt werden …“ [2/209] Dies nschließt ein, dass die Produktionsverhältnisse auf die Produktivkräfte zurückwirken. Was Engels in einem der Altersbriefe als drei verschiedene Möglichkeiten der aktiven historischen Wirkung der staatlichen Organisation einer Produktionsweise heraushebt, gilt auch für die Produktionsverhältnisse. Engels nennt diese drei Arten der Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung: Sie könne in derselben Richtung vorgehen wie die ökonomische Entwicklung – d. h., sie betreibt eine solche Politik, die dem sozialökonomischen Fortschritt entspricht –, „dann geht’s rascher“. Sie könne zweitens dagegen angehen, dann würde sie auf die Dauer kaputtgehen. Oder sie könne schließlich der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen abschneiden und andre vorschreiben, was sich auf einen der beiden erstgenannten Fälle reduzierte. Klar sei es, dass in den Fällen II und III die politische Macht der ökonomischen Entwicklung großen Schaden zufüge und massenhafte Kraft- und Stoffvergeudung bewirke. [3/210]

Marx und Engels betonen nun in der „Deutschen Ideologie“, dass für die Rückwirkung der Produktionsverhältnisse auf die Produktivkräfte nicht bloß der Fall I des obigen Verhältnisses zwischen Politik und Ökonomie stattfinden kann, die Entwicklung der Produktionsverhältnisse also mit den Produktivkräften konform geht. Vielmehr heben sie eine solche Form der Beziehung heraus, dass die Pole ineinander umschlagen, eine solche dialektische Einheit beider sich herstellt, dass die Produktionsverhältnisse selbst zu einer Produktivkraft werden. Die Produktion des wirklichen Lebens ist ein gesellschaftliches Verhältnis, setzt Zusammenwirken von Individuen voraus. Eine bestimmte Produktionsweise ist durch eine bestimmte Weise des Zusammenwirkens geprägt (Produktions- und Eigentumsverhältnisse sind notwendige Formen der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit). Diese „… Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine ,Produktivkraft’“. [4/211]

Es bedarf keines besonderen Nachdrucks, um zu erkennen, dass dieser nSachverhalt für den revolutionären Vorgang, worin die [zukünftige] sozialistische Gesellschaft errichtet wird, von allerhöchster Wichtigkeit ist. Im Sozialismus erweisen sich die Produktionsverhältnisse in einem vorher nie gekannten Maße als produktive [sozial-ökonomisch-ökologisch-emanzipatorische] Kräfte. Ihre neue [zukünftige] geschichtliche Produktivität entspringt ihrem sozialistischen Wesen: Es sind nicht Verhältnisse des „Zusammenwirkens“ der Individuen schlechtweg, sondern der bewussten, sachkundigen, planvollen, gemeinschaftlichen Zielen der Produzenten zustrebenden Zusammenarbeit. Die neuen [emanzipatorisch-sozialistischen] Produktionsverhältnisse selbst sind keine spontan entstandenen und blind wirkenden, sondern mit der sozialistischen Revolution und durch die Macht der Arbeiterklasse bewusst geschaffenen und eben auch planvoll weiterentwickelte. –

Wenn beispielsweise in der sozialistischen Landwirtschaft Genossenschaften sich zu einem Kooperationsverband zusammenschließen und wenn dynamische Kooperationsbeziehungen zwischen industrieller und agrarischer Produktion sowie naturwissenschaftlicher und technischer Forschung entwickelt werden, dann sind diese neuen Verhältnisse des planvollen Produzierens durchaus im Sinne des zitierten Satzes aus der „Deutschen Ideologie“ eine Produktivkraft. Es geschieht hierbei nicht bloß eine Anpassung an herangereifte Möglichkeiten der Technik, Erfordernisse der Volkswirtschaft, eine Steigerung der Produktivität der landwirtschaftlichen Produktion. Ebenso stimuliert diese Entwicklung der Produktionsverhältnisse die Entwicklung der Produktivkräfte, befördert die Entwicklung neuer Produktionsmethoden, Technologien usf.

Das Schwergewicht der Untersuchung der „Deutschen Ideologie“ liegt nun, um nochmals das Engelssche Beispiel zu nehmen, bei Fall II, also dem Vorgang, worin die Produktionsverhältnisse gegen die Produktivkräfte „angehen“. Und sie pflegen hierbei „kaputtzugehen“. Es ist dies jene Entfaltung des Widerspruchsverhältnisses zwischen beiden, die der Revolution zugrunde liegt. Mit der Aufhellung dieser Dialektik haben Marx und Engels das Geheimnis der Klassenkämpfe und der sozialen Revolution enthüllt: Alle Kollisionen der Geschichte haben also nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der VerkehrsformDieser Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform … mußte jedesmal in einer Revolution eklatieren …“ [5/212] Aus diesem Widerspruch hervorgegangen, ist jede soziale Revolution nichts anderes als die mehr oder weniger gewaltsame, blutige oder unblutige, in kürzeren oder längeren Zeiträumen vollzogene Lösung dieses Widerspruchs. Ihn aber lösen heißt, die Produktionsverhältnisse in Einklang bringen mit den Produktivkräften.

Produktionsverhältnisse sind primär Eigentumsverhältnisse. Also ist der soziale Hauptinhalt jeder Revolution die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse: Unter einer sozialen Revolution“, so fassen die „Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie“ dies zusammen, „versteht man einen qualitativen Sprung in der Entwicklung der Gesellschaft, in deren Ergebnis eine ökonomische Gesellschaftsformation durch eine andere abgelöst wird.“ [6/213] Es wird darauf zurückzukommen sein, dass diese Ablösung gewaltsam, in Gestalt erbitterter Klassenschlachten, durch politische Machteroberung der revolutionären Klasse und den Sturz des alten Staates geschieht.«

Anmerkungen

1/208 Vgl. hierzu R. Heberle, Hauptprobleme der Politischen Soziologie, Stuttgart 1967, S. 109.

2/209 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 38.

3/210 Vgl. Engels an Conrad Schmidt. 27. Oktober 1890, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 37, Berlin 1967, S. 491.

4/211 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 30.

5/212 Ebenda, S. 73 f.

6/213 Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie, Berlin 1971, S. 404.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 5.29. Produktionsverhältnisse und politische Macht, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

03.08.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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