Deutschlands 9. November 1938 – Zur kapitalfaschistischen Enteignung und Vernichtung deutscher Juden

Nach jahrelangen erfolgreichen Bemühungen, die Juden aus dem Erwerbsleben zu »verdrängen«, waren Anfang 1938 alle Voraussetzungen für die endgültige »Entjudung der deutschen Wirtschaft« geschaffen. Man konnte nunmehr darangehen, die Reste jeder einträglichen Erwerbstätigkeit der Juden zu liquidieren und die »Erfassung« ihrer Vermögen vorzubereiten.

 

Anfang 1938 lebten im »Altreich« noch 350.000 Juden. 160.000 bis 175.000 waren seit dem Januar 1933 ausgewandert oder gestorben. Die verbliebenen Juden verteilten sich auf 1.400 Gemeinden, von denen mehr als 730 »Notstandsgemeinden« sich in Liquidation befanden. 65 Prozent aller Juden waren in sieben Großstadtgemeinden konzentriert, 140.000, ca. 40 Prozent, allein in Berlin.

 

Aus den Quellen geht hervor, dass von den knapp 100.000 jüdischen Betrieben im Januar 1933 60 bis 70 % im Frühjahr 1938 nicht mehr existierten oder in »arischen« Besitz übergegangen waren. Besonders weit war die »Arisierung« der Einzelhandelsgeschäfte fortgeschritten. Von den 1933 über 50.000 jüdischen Geschäften gab es nach offiziellen Angaben im Juli 1938 im ganzen »Altreich« nur noch ca. 9.000, davon 3.637 in Berlin. Zum 1. Oktober 1937 wurde z. B. in Bochum festgestellt, dass über 50 % der jüdischen Geschäfte »bereits aufgelöst sind oder sich in der Arisierung befinden«, die Lage der restlichen »zumeist sehr schlecht« sei.

 

Auch die Ergebnisse der Anmeldung jüdischer Vermögen im April 1938 sind aufschlussreich. Insgesamt wurde im »Altreich« jüdisches Vermögen im Wert von ca. 5,1 Milliarden RM festgestellt. Nach Schätzungen war dies weniger als die Hälfte des jüdischen Vermögens von 1933, während die jüdische Bevölkerung um ein Drittel zurückgegangen war. Österreich eingeschlossen, bestand das angemeldete Vermögen von insgesamt 8,531 Milliarden RM nur zu 1,195 Milliarden RM, d. h. zu ca. 14 % aus »Betriebsvermögen«. Der Rest waren knapp 2,5 Milliarden RM in Grundbesitz und 4,88 Milliarden RM »anderes Vermögen«, die in einer »streng vertraulichen« Zusammenstellung des Reichswirtschaftsministeriums vom November 1938 bezeichnenderweise als »angreifbares Vermögen« registriert wurden, das »sofort erfassbar« sei.

 

Mit der beschleunigten »Arisierung« wuchs im Herbst 1937 die Arbeitslosigkeit unter den Juden. Jüdische Sozialarbeiter waren im Oktober des Jahres um das Los von 30.000 »uneinordnungsfähigen festen Erwerbslosen« besorgt. Bis zum Frühjahr 1938 war deren Zahl auf das Doppelte angestiegen. Die Wohlfahrtsetats der jüdischen Gemeinden reichten nicht mehr aus, alle Bedürftigen zu unterstützen. Die jüdische Winterhilfe unterstützte im Winter 1937/38 77.200 Menschen, über 21 % der jüdischen Bevölkerung.

 

Die Verschärfung der wirtschaftlichen Judenverfolgung lässt sich keineswegs als eigendynamische Steigerung unkoordinierter und miteinander konkurrierender Initiativen einer »dualistischen« Judenpolitik erklären. Sie war geplant und vorbereitet, und diese Vorbereitungen, im Kontext der Aufrüstung und Kriegsplanung, lassen sich auf Partei- und Regierungsebene zurückverfolgen. Neben den Regierungsstellen waren auch NS-Parteiinstanzen seit Ende 1936 verstärkt damit beschäftigt, die »Arisierung« und die Ausschaltung jüdischer Konkurrenz zu beschleunigen. In den Büros der NS-Gauwirtschaftsberater wurden für jedes noch bestehende jüdische Geschäft Einzelaktionen angelegt und im Einvernehmen mit den Handelskammern und Finanzämtern Umsätze und Geschäftsentwicklung verfolgt. Im Frühjahr 1938 waren alle Vorbereitungen abgeschlossen, so dass die forcierte Durchführung beginnen konnte. –

 

In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden die Synagogen in Deutschland von Kapitalfaschisten, SA und SS in Brand gesteckt. Unter den Augen der Mitbürger, Nachbarn, Geschäftspartner, Kollegen etc., toleriert von der Polizei und Feuerwehr, wurden die Synagogen kontrolliert zerstört – deshalb kontrolliert, weil das Eigentum der »Arier« von nebenan vor den Flammen geschützt werden musste. Ebenfalls in dieser Nacht wurden an die 7.500 Läden und Geschäfte jüdischer Eigentümer demoliert, geplündert und gebrandschatzt – nahezu alle Ladenlokale, die es damals noch gab. Mit Hilfe von sachkundig aufgestellten Listen wurden rund 30.000 wohlhabende Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt; dort wurden sie zum Teil monatelang festgehalten und gequält; wie viele von ihnen nicht wieder zurückgekehrt sind, ist nicht mehr aufzuklären.

[Ein modifizierter Auszug, vgl.]

 

Quelle: Der Judenpogrom 1938. Von der ›Reichskristallnacht‹ zum Völkermord. Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, April 1988.

 

08.11.2014, Reinhold Schramm (Zusammenfassung)

//