Zur Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
von Otto Finger
Wir haben anhand der „Deutschen Ideologie“ eine Reihe von geschichtlichen Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens verfolgt, von Entwicklungen speziell seit dem Entstehen des Kapitalismus, die einen entscheidenden, unerhört beschleunigten Fortschritt der Naturaneignung, der Technik, der Naturwissenschaft, der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit gegenüber der vorausgegangenen Geschichte darstellen. Gleichzeitig spitzt dieser Fortschritt die Widersprüche im Inneren der Gesellschaft in noch nie gekanntem Maße zu. Marx und Engels fassen alle Widersprüche, in denen der gesellschaftliche Fortschritt sich bewegt, in dem einen, grundlegenden Widerspruch zusammen: Es ist der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen der vorsozialistischen Gesellschaft.
Die Ausarbeitung dieser beiden fundamentalen Kategorien jeder Gesellschaftsuntersuchung und auch jeder wissenschaftlichen Gesellschaftskritik bezeichnet einen einschneidenden theoretischen Fortschritt des marxistischen philosophischen Denkens. Es ist ein Angelpunkt, aus dem heraus eine wissenschaftliche, materialistisch-dialektische Theorie der historischen Entwicklung aufgebaut wird.
Triebkräfte und Entwicklungsformen des sozialen Fortschritts, der Inhalt der sozialen und Klassenwidersprüche, Ursachen und Folgen sozialer Revolutionen – alle diese Grundfragen nicht nur jedes Versuches rationeller Geschichtserklärung überhaupt, sondern genauer noch des Aufbaus einer Entwicklungstheorie der Gesellschaft werden mittels der materialistischen und dialektischen Untersuchung der Beziehungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wissenschaftlich beantwortbar. Letzteres heißt hier: durch Aufweis der allgemeinsten, gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Seiten, Einrichtungen, materiellen und intellektuellen Prozessen geschichtlicher Epochen. Die terminologische Hülle – die begrifflichen Formen der Hegelschen und Feuerbachschen Philosophie –, in welcher sich noch in den „Manuskripten“ und auch noch in der „heiligen Familie“ der neue Inhalt, die materialistische und proletarisch-revolutionäre Geschichtsauffassung bewegte, ist nunmehr endgültig gesprengt. Der neue Inhalt hat die ihm gemäße begriffliche Entwicklungsform gefunden. Der diametrale Gegensatz der materialistisch-dialektischen Theorie und Untersuchungsmethode der Geschichte der Gesellschaft zur idealistischen Spekulation über die Geschichte wird in aller Schärfe ausgesprochen. Es ist nicht mehr bloß der partielle Gegensatz, der Gegensatz gegen diese oder jene Seite der idealistischen Geschichtsdialektik Hegels, der Gegensatz gegen die junghegelianische subjektiv-idealistische Elitetheorie usw., es ist der totale Gegensatz gegen sämtliche bürgerlich-theoretischen Voraussetzungen der spekulativen Geschichtsphilosophie. Sämtliche Voraussetzungen dieser Geschichtsphilosophie werden klar zusammengefasst als Idealismus. Marx und Engels greifen bürgerliche Ideologie sowohl von ihrem Klasseninhalt als auch von ihren allgemeinsten theoretischen Grundlagen her an. Diese theoretische Grundlage ist die „idealistische Geschichtsanschauung“.
Marx und Engels entwickeln den Gegensatz ihrer neuen materialistischen Theorie von der Geschichte zur idealistischen wiederholt und nachdrücklich als praktisch-revolutionären Gegensatz. In Ergänzung zu dem bereits eingeführten, ideologisch-theoretisch ganz wesentlichen Begriff des „praktischen Materialismus“ sei darum der folgende Gedankengang herausgehoben:
„Sie (die materialistische Geschichtsauffassung; O. F.) hat in jeder Periode nicht, wie die idealistische Geschichtsanschauung, nach einer Kategorie zu suchen, sondern bleibt fortwährend auf dem wirklichen Geschichtsboden stehen, erklärt nicht die Praxis aus der Idee, erklärt die Ideenformation aus der materiellen Praxis und kommt demgemäß auch zu dem Resultat, dass alle Formen und Produkte des Bewusstseins nicht durch geistige Kritik, durch Auflösung ins ,Selbstbewusstsein’ oder Verwandlung in ,Spuk’, ,Gespenster’, Sparren’ etc., sondern nur durch den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen diese idealistischen Flausen hervorgegangen sind, aufgelöst werden können – dass nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte, auch der Religion, Philosophie und sonstigen Theorie ist. Sie zeigt, dass die Geschichte nicht damit endigt, sich ins ,Selbstbewusstsein’ als ,Geist vom Geist’ aufzulösen, sondern dass in ihr auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits ihre eigenen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt – dass also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen.“ [1/179]
An andrer Stelle kennzeichnen Marx und Engels ihren Gegensatz zum Idealismus der Hegelschen Begriffsdialektik und der Anthropologie Feuerbachs so, dass sie nicht vom „Himmel“ – also den vom materiellen Leben abgetrennten Ideen, die zu einer jenseitigen, überirdischen Sphäre mystifiziert werden – zur Erde – also zur wirklichen Geschichte – herabsteigen, sondern umgekehrt, sie würden von der Erde zum Himmel aufsteigen. Das aber heißt: Sie gingen weder von dem, was die Menschen sich einbilden und vorstellen, noch von dem „eingebildeten, vorgestellten Menschen“ aus, um im nachhinein bei den „leibhaftigen Menschen“ anzukommen. Vielmehr gingen sie von den „wirklich tätigen Menschen“ aus, von ihrem „wirklichen Lebensprozess“, um aus ihm die „ideologischen Reflexe und Echos“ darzustellen. [2/180]
„Wirklicher Geschichtsboden“, „materielle Praxis“, „wirklicher Lebensprozess“ – der mit diesen Begriffen bezeichnete Ausgangspunkt jedes gesellschaftlichen Zustandes, jedes sozialen Organismus und seiner wissenschaftlichen Untersuchung konkretisiert sich in zwei Momenten, die seine qualitative Beschaffenheit, seine Struktur, seine allgemeinsten und wesentlichsten Beziehungen ausmachen. Es sind die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse. In der „Deutschen Ideologie“ treten neben diese Begriffe als gleichbedeutende: Produktionskräfte und Verkehrsformen. Letztere also als Form, worin die Produktionskräfte miteinander „verkehren“, sich austauschen.«
Anmerkungen
n1/179 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 38.
2/180 Ebenda, S. 26.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 5.24. Zur Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.
27.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)