Zur Beseitigung der auskömmlichen Rente in Deutschland:
Jeder zweite geht mit Abschlägen in Rente.
Immer mehr Über-60-Jährige müssen die Zeit bis zur Rente mit prekärer Lohnarbeit, Arbeitslosigkeit und im offenen Hartz-IV-Vollzug überbrücken. Das hat deutliche Auswirkungen auf die Höhe der Altersversorgung: Gegenwärtig geht die Hälfte der Altersrentnerinnen und Altersrentner vorzeitig und mit Abschlägen in den Ruhestand. Lediglich Männer, die aus einer stabilen Beschäftigung in Rente gehen, schaffen es mehrheitlich, ohne Abschläge durchzukommen – und viele von ihnen haben die Altersteilzeit in Anspruch genommen. In anderen Gruppen – Frauen und Männer in gelegentlicher oder längerer Arbeitslosigkeit – müssen 60 bis 80 Prozent der Neurentner Abschläge bzw. Rentenkürzungen hinnehmen.
Im kommenden Jahr (2012) beginnt die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters von 65 auf 67. Die Umstellung soll sich bis 2031 hinziehen, dann soll die “Rente mit 67” eingeführt sein. Die Wissenschaft verweist auf Probleme, die mit einer Anhebung des Rentenalters verbunden sind – und die die deutsche Bundesregierung weitgehend ausklammert. Wenn sich die Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt für Ältere nicht verbessern und sich die körperlichen und seelisch-psychischen Arbeitsbelastungen nicht reduzieren, dann habe eine Erhöhung des Rentenalters etliche Nachteile, warnen die Wissenschaftler.
Seit 1997 strebe die (kapitalfreundliche) staatliche Rentenpolitik an, die faktische Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben und die lohnabhängigen Menschen zu einem längeren Arbeitsleben zu bewegen. So wurde das Zugangsalter für eine abschlagsfreie Altersrente (vormals ohne Rentenkürzung) von 60 auf 65 erhöht. Außerdem verschiebt sich während der Jahre 2006 bis 2012 das frühestmögliche Eintrittsalter zur Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, von 60 auf 63 (mit Rentenreduzierung). Das Gleiche gilt auch für die bald auslaufende Altersrente nach Altersteilzeit. Diese drei Altersgrenzenanhebungen gingen sogar schneller vonstatten als der geplante Übergang zur Rente mit 67. “Die zurückliegenden Jahre waren stärker reformgeprägt [negativ besetzt] als es für die Zukunft zu erwarten ist”, schreiben die Wissenschaftler Prof. Dr. Matthias Knuth und Dr. Martin Brussig vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ).
Die Lohnabhängigen von heute passen sich bereits (weitgehend widerstandslos den Wünschen des Kapitals und deren Regierung) an und stellen sich auf ein langes Arbeitsleben ein. Analysen des IAQ belegen: Die Menschen melden ihren Ruhestand zusehends später an. Die Lobby-Bundesregierung berichtet gar, dass das häufigste Lebensalter beim Beginn einer Altersrente im Jahr 2000 noch bei 60 Jahren lag. Bereits acht Jahre später (2008) war es 65 Jahre. Die IAQ-Wissenschaftler relativieren diese Erfolgsmeldung der Bundesregierung jedoch: Sie beruht auch darauf, dass viele dieser Rentner aus der passiven Phase der Altersteilzeit in den Ruhestand wechseln – und somit nicht wirklich aus einer Erwerbstätigkeit. Darum müsse sich erst noch zeigen, so die Wissenschaftler, ob der tatsächliche Erwerbsaustritt auch nach dem Auslaufen der staatlich geförderten Altersteilzeit weiterhin aufgeschoben werden kann.
Der Bericht der Bundesregierung zu ihrem ‘positiven’ Zwischenfazit zum gestiegenen durchschnittlichen Renten-Zugangsalter blende jedoch wichtige Entwicklungen aus, kritisieren die Wissenschaftler: Nicht nur die schlechte Qualität vieler Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch die langfristigen Folgen von harten Arbeitsbedingungen. [Reduzierung der Lebenserwartung nach Renteneintritt für die vormaligen differenzierten Lohnarbeitskräfte ist – uneingestanden – erwünscht, zur Reduzierung der RentnerInnen-Kostenlast. Diese ‘Wahrheit wird allerdings von der bürgerlichen Wissenschaft, deren Parteien und Gewerkschaftsführungen nicht ernsthaft thematisiert.] Fehlende Leistungsfähigkeit und Gesundheitsprobleme aufgrund früherer Arbeitsbelastungen führe oftmals “zur vorzeitigen Berufsaufgabe und dem Abdrängen in randständige Jobs oder Arbeitslosigkeit”, so die Forscher. Den Betroffenen ist diese (sozialdarwinistische) Praxis in der kapitalistischen Arbeitswelt bewusst: Wer unter körperlichen und seelisch-psychischen Belastungen arbeitet, macht sich große Sorgen um seine Beschäftigungsfähigkeit. Bereits 54 Prozent der Beschäftigten mit einer körperlich anstrengenden Arbeit zweifeln daran, bis zum Rentenalter im Beruf durchzuhalten. Von den (lohnabhängig) Beschäftigten mit psychischen Druck bei der Arbeit sind es 47 Prozent.
Durch die so genannten “Rentenreformen” (negativ besetzt) haben sich der Charakter und die Bedeutung von Arbeitslosigkeit jenseits der 60 stark gewandelt. In den 1990er-Jahren war spätere Erwerbslosigkeit noch “der Ausgangspunkt zur materiell abgesicherten Frühverrentung”, so die Wissenschaftler. Seit dem Ende der Frühverrentungspolitik (ohne gesellschaftspolitischen Widerstand) ist sie hingegen “zunehmend Bestandteil eines prekären Altersübergangs” – vor allem für Menschen aus abhängiger Lohnarbeit – geworden. Jeder dritte Neurentner des Jahres 2007 hat einen problematischen Ausstieg aus dem (abhängigen) Arbeitsleben hinter sich mit Langzeitarbeitslosigkeit von mindestens drei Jahren (und mehr) oder einen um zwei Jahre vorzeitigen Rentenbezug, – mit entsprechend weiteren Rentenkürzungen. Auch Teilzeitarbeit und ‘Minijobs’ kommen bei den Über-55-Jährigen häufig vor – und reduzieren die Altersrente.
Seit der gesellschaftspolitischen und staatlichen Einführung des offenen Hartz-IV-Vollzugs (den so genannten Hartz-Gesetzen) geht die praktizierte Arbeitsmarktpolitik an den Älteren vorbei. Ältere werden wenig bis gar nicht gefördert (auch diese Wahrheit wird von den gesellschaftspolitischen und staatlichen Kapitalagenturen geleugnet). Sie werden ohnehin bald die Arbeitslosenstatistik verlassen und mit Reduzierungen in der Alters- und Armutsrente landen. Wer 63 ist und sich im offenen Hartz-IV-Vollzug befindet, muss möglichst rasch seine Rente anmelden (gegebenenfalls sorgt dafür auch der ‘sanfte’ Druck der Agentur). Auch diese Praxis führt dazu, dass Rentenabschläge bzw. Rentenkürzungen inzwischen weit verbreitet sind und das Risiko von Altersarmut – nach lebenslanger Lohnarbeit – wächst.
(Ein modifizierter Auszug.)
Quelle vgl.: Hans Böckler Stiftung, 29.03.2011. Analyse zu Rentenreformen in WSI-Mitteilungen: Jeder zweite geht bereits jetzt mit Abschlägen in Rente.
http://www.boeckler.de/320_113501.html
Weitere Informationen: Martin Brussig und Matthias Knuth: Am Vorabend der Rente mit 67 – Erkenntnisstand und Erkenntnislücken zur Entwicklung der Erwerbschancen Älterer, in: WSI-Mitteilungen 03/2011.
In: Böckler Impuls 5/2011. Altersübergang:
Statistische Effekte verschleiern die Probleme in den Jahren vor der Rente.
http://www.boeckler.de/pdf/impuls_2011_05_4-5.pdf
29.03.2011, Reinhold Schramm