Stalin: Der Kapitalismus befindet sich in der Sackgasse
Im Verlaufe der Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann, hatte sich die Lage in der Welt weiter zugespitzt. In Deutschland übertrug die Bourgeoisie den Nazis die Macht. Was danach geschah, ist hinlänglich bekannt. Auf dem XVII. Parteitag im Januar 1934 berichtete das Politbüro der Allunions-KP(B) ausführlich darüber. Heute stehen wir erneut vor einer Situation, die zu einer Lösung drängt. Doch man muß wissen: Nicht immer und keinesfalls zwangsläufig verläuft es so wie damals, daß die herrschende Klasse zur letzten aller Möglichkeiten greift und zum Krieg aufruft. Die Ähnlichkeiten zur heutigen Situation sind allerdings nicht von der Hand zu weisen. Hier ist nun das Referat von Stalin…
Die internationale Lage in der Welt
Das Ergebnis der langwierigen Wirtschaftskrise war eine bisher noch nicht dagewesene Verschärfung der politischen Lage der kapitalistischen Länder sowohl innerhalb der einzelnen Länder als auch in deren gegenseitigen Beziehungen. Die Verschärfung des Kampfes um die Auslandsmärkte, die Vernichtung der letzten Reste des Freihandels, die Schutzzölle, der Handelskrieg, der Valutakrieg, das Dumping und viele andere analoge Maßnahmen, die einen extremen Nationalismus in der Wirtschaftspolitik offenbaren, haben die Beziehungen zwischen den Ländern aufs äußerste zugespitzt, haben den Boden für kriegerische Zusammenstöße geschaffen und den Krieg als Mittel zur Neuaufteilung der Welt und der Einflußsphären zugunsten der stärkeren Staaten auf die Tagesordnung gestellt. (…) Kein Wunder, daß der bürgerliche Pazifismus jetzt ein klägliches Dasein fristet, das Geschwätz von der Abrüstung aber durch „sachliche“ Unterhaltungen über Rüstung und Aufrüstung abgelöst wird. Wieder rücken, wie 1914, Parteien des kriegslüsternen Imperialismus, Kriegs- und Revancheparteien, in den Vordergrund. Es geht offensichtlich einem neuen Krieg entgegen.
Hohe Arbeitslosigkeit in den kapitalistischen Ländern
Noch mehr verschärft sich infolge des Wirkens derselben Faktoren die innere Lage der kapitalistischen Länder. Die vier Jahre industrieller Krise haben die Arbeiterklasse erschöpft und Verzweiflung gebracht. Die vier Jahre Agrarkrise haben die besitzlosen Schichten der Bauernschaft nicht nur in den wichtigsten kapitalistischen Ländern, sondern auch insbesondere in den abhängigen und kolonialen Ländern vollends zugrunde gerichtet. Es ist eine Tatsache, daß trotz aller möglichen statistischen Spitzfindigkeiten, die es sich zum Ziel setzen, die Arbeitslosenzahl geringer erscheinen zu lassen, die Zahl der Arbeitslosen nach amtlichen Angaben bürgerlicher Institutionen in England 3 Millionen, in Deutschland 5 Millionen, in den Vereinigten Staaten 10 Millionen erreicht, von den anderen Ländern Europas ganz zu schweigen. Nimmt man noch die Kurzarbeiter hinzu, deren Zahl zehn Millionen übersteigt, nimmt man noch die Millionenmassen der ruinierten Bauern hinzu, so bekommt man ein ungefähres Bild von der Not und Verzweiflung der werktätigen Massen.
… doch das Bewußtsein der Massen liegt am Boden
Die Volksmassen sind noch nicht dahin gelangt, zum Sturm auf den Kapitalismus überzugehen, es kann aber wohl kaum daran gezweifelt werden, daß die Idee des Sturmes im Bewußtsein der Massen heranreift. (…) Daraus erklärt sich ja eigentlich im Grunde die Tatsache, daß die herrschenden Klassen der kapitalistischen Länder die letzten Überreste des Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie, die von der Arbeiterklasse in ihrem Kampfe gegen die Unterdrücker ausgenutzt werden können, geflissentlich vernichten oder auf ein Nichts reduzieren, die kommunistischen Parteien in die Illegalität treiben und zu offenen terroristischen Methoden der Aufrechterhaltung ihrer Diktatur übergehen.
Der Faschismus ist ein Modeartikel
Der Chauvinismus und die Kriegsvorbereitungen als Hauptelemente der Außenpolitik, die Niederhaltung der Arbeiterklasse und der Terror auf dem Gebiete der Innenpolitik als notwendiges Mittel zur Stärkung des Hinterlands der künftigen Kriegsfronten – das ist es, was die heutigen imperialistischen Politiker jetzt besonders beschäftigt. Kein Wunder, daß der Faschismus jetzt zum gangbarsten Modeartikel unter den kriegslüsternen bürgerlichen Politikern geworden ist. Ich spreche nicht nur vom Faschismus überhaupt, sondern vor allem von dem Faschismus deutschen Schlages, der sich mit Unrecht Nationalsozialismus nennt, denn selbst bei gründlichster Prüfung ist es unmöglich, in ihm auch nur eine Spur Sozialismus zu entdecken.
Die Schwäche der Bourgeoisie
In diesem Zusammenhang darf man den Sieg des Faschismus in Deutschland nicht nur als Zeichen der Schwäche der Arbeiterklasse und als Ergebnis der Verrätereien an der Arbeiterklasse seitens der Sozialdemokratie betrachten, die dem Faschismus den Weg ebnete. Man muß ihn auch als Zeichen der Schwäche der Bourgeoisie betrachten, als Zeichen dafür, daß die Bourgeoisie nicht mehr imstande ist, mit den alten Methoden des Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie zu herrschen, und in Anbetracht dessen gezwungen ist, in der Innenpolitik zu terroristischen Regierungsmethoden zu greifen, — als Zeichen dafür, daß sie nicht mehr imstande ist, einen Ausweg aus der jetzigen Lage auf dem Boden einer friedlichen Außenpolitik zu finden, weshalb sie gezwungen ist, zur Politik des Krieges zu greifen.
Das ist die Lage. Wie man sieht, geht es einem neuen imperialistischen Krieg entgegen, als einem Ausweg aus der jetzigen Lage. Natürlich besteht kein Grund zu der Annahme, daß der Krieg einen wirklichen Ausweg bringen kann. Im Gegenteil, er muß der Lage noch mehr verwirren. Mehr noch, er wird bestimmt der Revolution entfesseln und die Existenz des Kapitalismus in einer Reihe von Ländern in Frage stellen, wie das im Laufe des ersten imperialistischen Krieges der Fall war. Und wenn die bürgerlichen Politiker trotz der Erfahrung des ersten imperialistischen Krieges dennoch zum Krieg greifen, wie der Ertrinkende nach einem Strohhalm, so bedeutet das, daß sie sich endgültig in ihrem Netzen verstrickt haben, daß sie in eine Sackgasse geraten drauf und dran sind, kopfüber in den Abgrund zu stürzen.
Quelle:
J.Stalin, Fragen des Leninismus, Dietz Verlag, Berlin (DDR), 1951, S.520-522.