Sozialismus: Im Kampf gegen die Unbildung
Mit ungebildeten Menschen, wie sie der Kapitalismus immer wieder aufs Neue hervorbringt, ist der Sozialismus auch künftig nicht zu machen. Nur eine gebildete Arbeiterklasse wird imstande sein, die täglichen Herausforderungen zu meistern, die der Aufbau des Sozialismus erfordert. Nur eine gebildete Arbeiterklasse wird auch fähig sein, den Kapitalismus letztendlich zu überwinden. In seinem Referat auf dem XI. Gesamtrussischen Sowjetkongreß am 25. Juni 1924 hob Anatoli Lunatscharski vor allem den Kampf Lenins gegen die Unbildung hervor: „Lenin verstand ausgezeichnet, daß die Volksbildung in den bürgerlichen Ländern dazu dient, den Massen durch äußeres, dekoratives Demokratiegebahren die Augen zu verkleistern und sie auf dem Stand der Zufriedenheit mit ihrer Verfassung zu halten.“
Was aber tun? Wenn ein bestimmtes Selbstbewußtsein für das Volk insgesamt und für das Proletariat insbesondere erforderlich ist, um die revolutionären Probleme anzugehen und richtige Wege zu deren Lösung zu finden, und wenn diese Aufklärung ohne Revolution keinesfalls durchzusetzen ist, – ist das nicht wie eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt? Ist das nicht ein unlösbares Problem: ohne Bewußtsein keine Revolution, ohne Revolution kein Selbstbewußtsein?
Die kommunistische Partei wird die Massen führen
Diese Frage wurde in gewissem Grade “aristokratisch” gelöst, d. h. durch Übertragung der Problemstellung auf folgende Ebene: Die Volksmassen bringen – wenn auch schwer, wenn auch unter Leiden, wenn auch unter Opfern – eine bestimmte Avantgarde hervor, vorwiegend natürlich aus dem Proletariat, aus dem eigenen, besonders fortschrittlichen Teil. Die ganze Masse kann noch nicht auf der Höhe dieses Selbstbewußtseins stehen, darum würde sie, sich selbst überlassen, unvermeidlich Fehler begehen. Diese Avantgarde, die über die gesamte Fülle des Bewußtseins verfügt, ist die kommunistische Partei.
Und die Masse wird tätig werden können, weil keine Avantgarde für sie tätig sein kann, und sie wird als Masse richtig tätig sein können – denn die Revolution ist eine Tat der Massen –, wenn sie genügend Vertrauen in ihre Vortrupp-Partei haben wird und wenn die Vortrupp-Partei ausreichend stark und konsequent ist, um die Masse zu führen. Das war eben die erste, die Vorablösung des revolutionären Problems: es wird eine Avantgarde hervorgebracht, es wird die Revolution vollzogen.
Doch nun vollzieht sich die Revolution. Was weiter?
Die erste These Wladimir Iljitschs: Es wäre kindisch anzunehmen, daß die Kommunisten den Kommunismus allein errichten können. Die Kommunisten sind ein Tropfen im Meer. Ausgehend von dieser These formuliert Wladimir Iljitsch auch andere: Man muß sich auf die Kräfte außerhalb der Partei stützen, man muß sie in die staatliche, in die wirtschaftliche, in die kulturelle Arbeit einbeziehen.
Zwei Aufgaben zeichnete Wladimir Iljitsch vor. Erstens ist es notwendig, so schnell wie möglich das kulturelle Niveau der Massen zu heben, und nicht nur der proletarischen, sondern auch der bäuerlichen Massen. Der Weg zu dieser Hebung ist die Bildung.
Der Hunger [im Jahre 1921] hat unserem gesamten Kampf gegen das Analphabetentum eins ausgewischt. Als aber der Hunger vorbei war, beeilte sich Wladimir Iljitsch einen Artikel zu schreiben, in dem gesagt wird, daß es unsere direkte Pflicht ist, das Analphabetentum der Bevölkerung unter 35 Jahre bis zum 10. Jahrestag zu liquidieren.[1] Wladimir Iljitsch wußte ausgezeichnet, daß dies schwer ist, er war ein großer Realist, und er empfand diese Schwierigkeiten besser als irgendeiner von uns, er kannte die Zahl der Analphabeten und wußte auch, wieviel das ungefähr kosten wird, und er hat gesagt, daß dies zu erreichen möglich ist.
Genauso interessierten Wladimir Iljitsch auch Fragen der Schule und Fragen der Massenbüchereien. Und es ist klar, warum. Weil er, in vollem Maße Demokrat in der heiligsten und lichtesten Bedeutung dieses Wortes, auf jede Weise den Zeitpunkt näher bringen wollte, da die Volksmassen, nicht nur die Arbeiter-, sondern auch die Bauernmassen, ihre Belange und die Wege zu ihrer Befreiung nicht nur auf der Ebene der Politik, sondern auch auf der Ebene ihrer gesamten tagtäglichen Wirtschaftsführung und ihres Daseins in der ganzen Fülle begreifen werden. Dies ist so. Doch daraus folgt nicht, daß wir uns voll auf die Stufe der untersten Bildung hinab begeben müssen, daß die ganze Hauptaufgabe auf Schulen für die Beseitigung des Analphabetentums und auf Massenbüchereien hinausläuft.
Das Ziel – ein einheitliches sozialistisches Bildungssystem
Wladimir Iljitsch begriff ausgezeichnet, daß wir die Schule nicht richtig auf die Beine stellen, daß wir weder die Massenbücherei auf die Beine stellen noch das Analphabetentum beseitigen werden, wenn sich unsere Wirtschaft nicht entwickeln wird, wenn die staatliche Verwaltung ewig die stockend arbeitende Maschine bleiben wird, die er zu sehen bekam. Denn er sagte unumwunden: Bei uns macht, mit Ausnahme vielleicht des Narkomindel (Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten), das noch nach etwas aussieht, kein Kommissariat einen gescheiten Eindruck, alle arbeiten, wie es gar nicht schlechter geht. Das erklärte er mit aller Strenge. Wir haben einen Staatsmechanismus aufgebaut, der im Gefecht standgehalten hat, der sich als lebenstüchtig erwies, doch seht, wie störanfällig er ist. Man muß ihn umgestalten, man muß die Menschen lehren zu leiten, und gut zu leiten, in handlichen Formen, in klaren, exakten und einfachen Formen.
Man muß wirtschaften, darunter auch handeln lernen. Man muß aufklären lernen, so aufklären, daß alle drei Seiten – die Allgemeinbildung, beim Alphabet angefangen, die technische Bildung und die politische Aufklärung – zu einem Strang verschweißt, zu einem Drahtseil des einheitlichen Bildungssystems verflochten werden. Doch für all das ist Voraussetzung, daß die Aufklärer selbst vorhanden sind, daß Wirtschaftsfachleute, daß Verwaltungsexperten vorhanden sind. An denen aber mangelt es.[2]
Woher soll man die Fachleute nehmen?
Welchen Ausweg gibt es da? Es gibt für uns einen Ausweg: an die Jugend appellieren. Wir appellieren an die Arbeiter- und Bauernjugend. Sie ist ungebildet? Ja. Man muß ihr Bildung angedeihen lassen, man muß ihr jene Bildung geben, die sowohl von ihr als auch von uns benötigt wird. (…)
Wir schlagen uns namentlich für einen solchen Staat, der in vollem Maße fähig wäre, Kulturpolitik zu leisten, und solange wir ihn noch nicht erkämpft haben, müssen wir uns im exakten Sinne des Wortes herumschlagen.
Die zweite Frage ist, was lehren und wie lehren. Sie wissen, daß Wladimir Iljitsch seine glänzende und tiefgründige Rede an die Komsomolzen gerade dieser Frage gewidmet hat. In allgemeinen, grundsätzlichen Umrissen hat er diese Frage mit erschöpfender Klarheit beantwortet: Wenn wir uns nicht die gesamte Kultur der Vergangenheit zu eigen machen, werden wir keinen Schritt vorankommen.
Anmerkungen:
[1] In seinem Referat sprach Lunatscharski davon, daß das Analphabetentum im Alter von 18 bis 35 Jahren bis zum 10.Jahrestag der Oktoberrevolution auszumerzen sei.
[2] Offenbar meint Lunatscharski die schwere wirtschaftliche Lage des Landes, als es nicht einmal genug Geld gab, um die Arbeiter zu entlohnen.
Quelle:
A. W. Lunatscharski, Wie war Lenin? APN-Verlag Moskau, 1981, S. 142-147. (Zwischenüberschriften von mir, N.G.)
Nachbetrachtung: Die Verwirrung in den Köpfen ist groß. Das heutige (politische) “Analphabetentum” besteht vor allem im Fehlen einer wissenschaftlichen Weltanschauung. Deshalb ist es notwendig, nicht nur über gewisse fachliche Kenntnisse zu verfügen und eine bestimmte Qualifikation zu erwerben, sondern sich zugleich auch die Philosophie des Marxismus-Leninismus, den dialektischen und historischen Materialismus, bewußt anzueignen (und der ist keineswegs überholt!). Anders wird man sich wohl kaum in der Welt zurechtfinden oder gar Veränderungen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse herbeiführen können.