Die Klassenlage verringert die Lebenserwartung von Angehörigen der Arbeiterklassen in Deutschland und Europa »Der Einfluss von Einkommenslage und Lebenslage auf das Mortalitätsrisiko«
[Auszug]
»Die vorzeitige Sterblichkeit gilt als der stärkste Indikator für den Gesundheitszustand der
Bevölkerung einer Gesellschaft. Unter sozialpolitischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage nach
vermeidbarer vorzeitiger Sterblichkeit und damit nach den Einflussgrößen, die Unterschiede in der
Lebenserwartung bedingen.«
Ergebnisse
»Durch Überlebenskurven lassen sich Unterschiede in der geschätzten Lebenserwartung der
untersuchten über 45-Jährigen veranschaulichen {…}. Betrachtet man den Zusammenhang von
Lebenslage bzw. Einkommenslage und Lebenserwartung bei Personen ohne Migrationshintergrund
und differenziert nach Geschlecht, wird der Einfluss unterschiedlicher Versorgungslagen auf die
Überlebenschancen deutlich. Männer in einer Lebenslage, die durch verfestigte Armut
gekennzeichnet ist, haben mit 69 Jahren gegenüber denen im gesicherten Wohlstand mit 81
Jahren eine signifikant niedrigere Lebenserwartung. Gegenüber den Armen steigen die
Überlebenschancen der Männer in einer Lebenslage der Prekarität oder der temporären Armut um fünf
Jahre und bei denen in inkonsistenter Armut oder ungesichertem Wohlstand um sieben bzw. acht
Jahre. Allerdings verringert sich unter den hochbetagten Männern mit zunehmendem Alter der
deutliche Unterschied zwischen denen in verfestigter Armut und denen in einer partiell besseren
Lebenslage unterhalb von Wohlstand. Bei den Frauen haben dagegen diejenigen, die sich in einer
Lebenslage mit temporärer Armut befinden mit weniger als 74 Jahren eine geringere Lebenserwartung
als jene die in verfestigter Armut leben. Die Überlebenschancen von Frauen in einer prekären
Lebenslage sind nicht nur größer als die von Frauen in einer der anderen Armutslagen, sondern liegen
erstaunlicherweise mit nur drei Jahren unter der Lebenserwartung von Frauen in Wohlstandslagen mit
84 Jahren.
Betrachtet man den Einfluss von Einkommenslagen auf die Überlebenschancen, zeigt sich auch hier
der erwartete Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männern in Einkommensarmut und
unterem bis höherem Wohlstand. Während sich die Überlebenschancen der besser gestellten Personen
unabhängig von der Betrachtung nach Einkommenslage und Lebenslagen nicht signifikant
unterscheiden, zeigen sich bei den einkommensarmen und lebenslagenarmen Männern erhebliche
Unterschiede. Beim Fokus auf Einkommenslagen ist die Lebenserwartung einkommensarmer Männer
mit 66 Jahren deutlich niedriger als die der Männer in verfestigter Lebensarmut. Bei den Frauen zeigt
sich dagegen ein umgekehrter Effekt, denn die Lebenserwartung der einkommensarmen Frauen ist mit
77 Jahren erstaunlicherweise größer als die derjenigen in verfestigter Lebenslagenarmut mit 75 Jahren.
Die Lebenserwartung von Frauen in über Einkommenslagen gemessenem prekären und unterem bis
höherem Wohlstand liegt etwa auf dem Niveau der Lebenserwartung von Frauen in über Lebenslagen
gemessenen Wohlstand. Höhere Wohlstandslagen verbessern offensichtlich unabhängig von deren
Bestimmung die Überlebenschancen. Der unterschiedliche Effekt von Lebenslagenarmut und
Einkommensarmut auf die Lebenserwartung von Männern und Frauen verweist darauf, dass damit
auch unterschiedliche Lebenschancen gemessen werden. Dies wird deutlich wenn man sich
vergegenwärtigt, dass temporäre Lebenslagenarmut offensichtlich stärker die Lebenschancen von
Frauen verringert als Einkommensarmut.
Betrachtet man den Einfluss von Lebenslage und Einkommenslage unter Berücksichtigung anderer
sozioökonomischer Merkmale, zeigt sich zunächst das gegenüber Frauen erheblich größere
Mortalitätsrisiko der Männer {…}. Des Weiteren wird der „Healthy-Migrant-Effect“ deutlich, der zu
größeren Überlebenschancen bei Personen mit Migrationshintergrund führt. Der strukturelle Wandel
in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre hat offensichtlich Personen derart belastet, dass sich
dies in einem erhöhten Mortalitätsrisiko niederschlägt. In gleicher Weise sind Alleinstehende
einem erhöhten Mortalitätsrisiko ausgesetzt und zwar unabhängig davon, ob sie als soziale Singles
(ledig, getrennt lebend, geschieden) oder biologische Singles (verwitwet) den Alltag bewältigen. Bei
den Geburtskohorten zeigt sich, wie zu erwarten war, dass die Überlebenschancen alter Kohorten
abnehmen und deren Mortalitätsrisiko steigt.«
Die Klassenlage verringert die Lebenserwartung der Arbeiterklassen
»Während diese sozio-demografischen Determinanten in gleicher Weise auf die Lebenserwartung von
Männern und Frauen wirken, ergeben sich bei anderen Einflussgrößen deutliche geschlechtsspezifische
Unterschiede. So erhöht ein niedriges Bildungsniveau das Mortalitätsrisiko der Männer, während
es für sich für die Überlebenschancen der Frauen als statistisch nicht bedeutsam erweist. In ähnlicher
Weise wirkt die Klassenlage, die signifikant die Lebenserwartung von Angehörigen der
Arbeiterklassen verringert, und dies vor allem bei den Männern. Fehlendes Wohneigentum scheint
das Sterblichkeitsgeschehen der gesamten Population nicht zu beeinflussen. Differenziert man jedoch
nach Geschlecht zeigt sich, dass es sich um Einflussgröße handelt, das Mortalitätsrisiko von Männern
erhöht.
Betrachtet man schließlich den Effekt von Lebenslagen, wird deutlich, dass alle
Versorgungslagen unterhalb des stabilen Wohlstands negativ auf die fernere Lebenserwartung
wirken. Dabei zeigt sich nicht nur ein deutlicher Effekt von verfestigter Armut oder durchgängiger
Prekarität, sondern auch von Lebenslagen, die eher temporär die Lebenslage beeinträchtigen. Dieser
Effekt tritt besonders bei den Frauen auf. Möglicherweise erzeugen drastische Veränderungen der
Lebenslage einen derart belastenden Stress, dass das Mortalitätsrisiko steigt. In gleicher Weise
wirken Inkonsistenzen, bei denen Einkommen und Lebensstandard auf jeweils unterschiedlichem
Niveau die Lebenslage bestimmen.
Der Einfluss der Einkommenslage auf das Sterblichkeitsgeschehen verdeutlicht bei den meisten
sozioökonomischen Einflussgrößen den gleichen Effekt in etwa gleicher Größenordnung {…}. Da
Einkommen hochgradig mit Realvermögen korreliert, zeigt sich bei dieser Betrachtungsweise ein
signifikanter Effekt fehlenden Wohneigentums nicht auf das Mortalitätsrisiko der Männer, sondern
bereits der Gesamtpopulation. Ansonsten wird erwartungsgemäß bestätigt, dass eine relative
Einkommensarmut das Mortalitätsrisiko erhöht und prekären Wohlstand weitaus schwächer negativ
auf das Sterblichkeitsgeschehen einwirkt.
Durch eine Betrachtung von Lebenslagen und Einkommenslagen über einen fünfjährigen
Beobachtungszeitraum wird deren Einfluss auf die Überlebenschancen besonders deutlich. Durch
Rekurs auf den temporale Charakter von Lebenslagen zeigt sich, in welchen Ausmaß drastische
Veränderungen einer Lebenslage mit derart hohen Belastungen einhergehen, dass sie das
Mortalitätsrisiko erhöhen.« (Vgl.)
[Ein Auszug.]
Quelle: Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik (ZeS), Report, 16. Jahrgang, Nr. 1, Juni
2011. »Der Einfluss von Einkommenslage und Lebenslage auf das Mortalitätsrisiko« von
Wolfgang Voges und Olaf Groh-Samberg. Vgl.:
http://www.zes.uni-bremen.de/ccm/cms-service/stream/asset/?asset_id=7616367
29.04.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)