Dämon Stalin?
Zum 64. Todestag J.W.Stalins am 5. März 2017 lief am Abend zuvor bei n-tv das als Reportage getarnte Propaganda-Stück „Apokalypse Stalin – Der Demon“[1]. Untertitelt mit „Der sowjetische Diktator Joseph Stalin versetzte Land und Bürger während seiner Regierungszeit in Angst und Schrecken. Er tötete Millionen Menschen, die er für politische Gegner hielt“ wurde erneut an den Haaren herbeigezogen, was Heerscharen von in westlichem Sold stehende Geschichtsverdreher über Jahrzehnte zusammentrugen. Hauptsächlich stützten sich all diese auf die Beschuldigungen aus zwei Quellen: auf die von Trotzki und die der deutschen Faschisten. Alles zusammen verdichtete sich zum diesjährigen Stalin-Horror bei n-tv. Und der deutsche Medien-Konsument gruselt sich und schwört: Nie wieder Kommunismus! Genau das soll er.
Doch wie ist das heutige Stalin-Bild innerhalb der seit der Niederlage des deutschen Imperialismus vergangenen 70 Jahren in den westeuropäischen Staaten überhaupt zustande gekommen? Gehen wir zurück zum Ende des 2. Weltkriegs. Für den entstehenden “Westen” ging es damals vorrangig um zwei Dinge: Man wollte den in Europa Staat gewordenen Sozialismus um jeden Preis – auch um den Preis eines weiteren Krieges – zurückrollen, und man wollte noch immer an die Reichtümer der Sowjetunion herankommen, was um 1920 (trotz der Interventionen von 14 Invasions-Armeen) ebenso wie ab 1941 misslang.
Die Sowjetunion musste dazu getreu der Churchill zugeschriebenen Parole, mit den deutschen Faschisten sei “das falsche Schwein” geschlachtet worden, durch den Imperialismus ins Visier genommen werden. Das begann schon vor Kriegsende, z.B. mit der Bombardierung Dresdens, um den Vormarsch der Roten Armee kurz nach den Beschlüssen von Jalta zu behindern. Dies gelang.
Zum Aufbau einer neuen Konfrontation musste aber Stalin, der 1945 auch in Westeuropa sehr populär war, mit allen von Goebbels geerbten Mitteln und Propaganda-Lügen dämonisiert und seines Ansehens beraubt werden. Dazu konnte man tatsächlich sogar noch ein paar “Kronzeugen” aus der Sowjetunion mit ins Boot holen. Das waren z.B. der mit Nazis und US-Regierung kungelnde Trotzki[2] oder auch ein Herr Chruschtschow, dessen eigenes fehlerhaftes Handeln in den Dreißigern nur noch übertroffen wurde durch seine Unfähigkeit und Verlogenheit als späterer Staats- und Partei-Chef.[3]
Die Dämonisierung Stalins war nötig, denn das große Ansehen und die größten Erfolge der Entwicklung der Sowjetunion sind eng mit seiner Regierungszeit verbunden. Dies betrifft bei weitem nicht nur den Triumph über die damalige größte Militärmacht, das faschistische Deutschland. Denn dieser Sieg wurde z.B. erst möglich vor dem Hintergrund einer sozialistischen Industrialisierung, die zwischen 1930 und 1940 zu Zuwachsraten der Industrieproduktion von jährlich durchschnittlich 16,5% führte. Und durch Investitionen in die Landwirtschaft und die Kollektivierung wurde, trotz des Klassenkampfs auf dem Land (1931-32), die Agrarproduktion binnen zehn Jahren enorm gesteigert. So lag die Getreideproduktion 1931 noch bei 69,5 Mill. Tonnen, 1937 aber betrug sie bereits die Rekordsumme von 120,9 Mill. Tonnen. Dies soll an Beispielen genügen, zahlreiche weitere wären zu nennen.[4] Es ging um derartige wie die oben genannten Erfolge und Fakten, die die Sowjetunion zu einer äußerst positiven Kraft in der Sicht der Völker werden ließen, was sich natürlich auch auf das Ansehen ihrer Führung auswirkte: Stalin war ein Symbol des erfolgreichen und siegreichen Sozialismus. Für die Völker Europas war er aber noch weit mehr. Zum Beispiel verkörperte er als Garant des proletarischen Internationalismus auch erfahrene Solidarität, sei es im Spanien-Krieg oder bei der Befreiung von Konzentrationslagern und osteuropäischen Ländern vom Faschismus. Wollte man von Westen aus den Sozialismus wie auch den guten Ruf der Sowjetunion beseitigen, ging es nicht nur um den Aufbau gigantischer Rüstungskapazitäten im „Kalten Krieg“, sondern es musste v.a. auch das positive Image der Sowjetunion und Stalins zerstört werden. Dies erfolgte nach 1945 verstärkt bis in unsere Tage hinein, z.T. sogar unter Ausnutzung platter Nazi-Propaganda wie z.B. zum „ukrainischen Hunger-Holocaust“, „Katyn“ usw.[5] Zu „Katyn“ halfen nach 1990 sogar russische Stellen, die sich im Gegenzug finanzielles Entgegenkommen sichern wollten.[6] Die Delegitimierung Stalins lief dabei folgerichtig auf den Ebenen ab, die der Sowjetunion seiner Regierungszeit erst ihr Prestige gebracht hatten; die folgende Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen:
- Sie betraf die wirtschaftliche Ebene: Den bekannten Erfolgen des sozialistischen Aufbaus wurde z.B. die Propaganda des „Hunger-Holocaust“ entgegengestellt.
- Sie betraf die demokratische Ebene: Der Demokratisierung durch die Diktatur des Proletariats, der Macht der Räte wurde die Propaganda der „Schauprozesse“ bzw. prinzipieller Ungesetzlichkeit entgegengestellt.
- Sie betraf die militärische Ebene: Dem Sieg über den deutschen Faschismus wurde z.B. die Propaganda von Stalins „Versagen“ bei Kriegsbeginn entgegengestellt.
All diese Bereiche eines platten Antikommunismus wurden z.B. in der alten BRD pseudo-„wissenschaftlich“ unterfüttert. Beispielsweise erschien bereits 1961 zum Thema der „stalinistischen Verfolgungen“ etc. die weit verbreitete Broschüre „Roter und Brauner Terror in Zahlen“[7]. Sie und andere dienten bereits vor Jahrzehnten der Entwicklung und Installierung der Totalitarismus-Doktrin der Herrschenden – „rot gleich braun“. Abermillionen Tote wurden zusammenaddiert und Stalin vorgeworfen. Auf die Frage, warum dennoch die Bevölkerungszahl der Sowjetunion von ihrer Gründung bis 1941 deutlich anstieg, wurde nicht eingegangen. Auch wurden entlastende Zeugnisse wie z.B. die zeitgenössischen Berichte des deutschen Schriftstellers Lion Feuchtwanger über die „Moskauer Prozesse“ 1936-1938 ignoriert.[8] bzw. [9]
Es war Stalin, der 1938 aus dem Ruder laufende Verhaftungen und Verurteilungen beendete. Der faschistische Nazi-Geheimdienst war tatsächlich effektiv gewesen. Offenbar schafften es die Deutschen nicht nur, den sowjetischen Chefankläger Jeschow umzudrehen, dessen „Jeschowschtschina“ allein schon den Wert einer „5. Kolonne“ hatte, welche später in anderen europäischen Staaten den Nazis den Sieg ermöglichten.[10] Dazu gehörte z.B. auch, dass viele aus Nazi-Deutschland geflüchtete Kommunisten und Antifaschisten hintenherum von deutscher Seite in der Sowjetunion als Nazi-Spione denunziert wurden.
Begünstigt wurde die Nachkriegs-Propaganda gegen Stalin ausgerechnet aus der Sowjetunion selbst heraus, v.a. seit der Einsetzung des Revisionisten Chruschtschow als Generalsekretär und Ministerpräsident und insbesondere ab dem XX.Parteitag der KPdSU. Ohne die Chruschtschows und (nachfolgend) Gorbatschows mitsamt ihrer Gefolge, mitsamt ihrem ideologischen Revisionismus und dessen lähmenden Folgeerscheinungen in Wirtschaft und Gesellschaft wäre es für den Imperialismus wohl sehr viel schwieriger gewesen, in der Sowjetunion / Osteuropa seine Konterrevolution durchzusetzen. Diese gründete eben v.a. auch auf die Demontage Stalins, was den Schriftsteller Peter Hacks angesichts der Zerstörung des Stalin-Denkmals in Berlin sehr hellsichtig formulieren ließ: “Lenins Trümmer sind dies. Letztes Jahr Ward sein Bild zerstört und hier vergraben. Als sie Stalin kippten, das war klar, War auch Lenin nicht mehr lang zu haben.”
Auch Stalin war klar, dass ein ideologisches Zurückweichen vor dem Imperialismus die Niederlage in sich barg. Er formulierte lange zuvor in den dreißiger Jahren: „Man darf nicht zulassen, dass es im Führungsstab der Arbeiterklasse Skeptiker, Opportunisten, Kapitulanten und Verräter gibt. […] Es ist im Inneren, dass sich Festungen am leichtesten erobern lassen.“[11]
Und heute? Trotz der Propaganda-Sendungen, die noch immer die Wohnstuben verpesten, wandelt sich durch zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen das Bild Stalins. Zwar bleibt – vor allem in der BRD! – eine positive Sichtweise auf Stalin verpönt. Doch mehr und mehr derjenigen, die sich hierzulande als Marxisten-Leninisten verstehen, stellen nach und nach fest: Es war das Hauptverdienst und Werk von Marx und Engels, die sozialistische Theorie durch zahlreiche Untersuchungen und Forschungen aus dem Umfeld einer illusionären Utopie in der Rang einer Wissenschaft erhoben zu haben. Ihnen nachfolgend war es das Hauptverdienst und Werk von Lenin und Stalin, dem Sozialismus gesellschaftliches Leben zu verleihen und das, was bislang als Befreiung und Fortschritt nur denkbar war, in die Praxis umzusetzen. Wir Kommunisten sind nach der Niederlage von um 1990 erneut und noch immer im Lernprozess. Dabei lernen wir entweder auch, die Leistungen aller vier oben genannten Genossen in ihrem Umfang zu erfassen, zu begreifen und sie in ihrer Gesamtheit als Schlüssel für die kommenden Kämpfe zu nutzen – oder wir haben nichts gelernt.
[1] gemeint war wohl „Dämon“ [2] vgl. Sayers/Kahn: Die große Verschwörung. Verlag Volk und Welt. Berlin 1953. S.201-339 [3] vgl. Grover Furr: Chruschtschows Lügen. Verlag Das Neue Berlin. Berlin 2014 [4] Zu einem weiteren Stützpfeiler, dem der sozialistischen Demokratie, siehe:
Michael Kubi: Die Sowjetdemokratie und Stalin. Hrsg. Offen-siv. Hannover 2015 [5] vgl. Ludo Martens: Stalin anders betrachtet. Berchem 1998;
und: Offen-siv 8/2014: Stalinheft II. Zur Geschichte der Sowjetunion. Forschungen und Dokumente
( http://www.offen-siv.net/2014/14-08_Stalinheft_2.pdf ) [6] siehe zu Katyn auch die Artikel auf „Sascha’s Welt“ (https://sascha313.wordpress.com/?s=Katyn ) [7] Ottmar Bühler: Roter und Brauner Terror in Zahlen. Verlag Karl Wenschow. München 1961 [8] Mit der Festigung der Sowjetunion wurde ab ca. 1930 v.a. durch den „Block der Rechten und Trotzkisten“ mehr und mehr versucht, die Sowjetunion von innen heraus zu zerstören, wozu Sabotage, terroristische Anschläge und Morde gehörten. Der „Block“ plante „die Ermordung von Stalin, Kaganowitsch, Molotow und anderen im Rahmen eines Staatsstreiches, den sie eine ‚Palastrevolte‘ nannten. Der Block ermordete tatsächlich Kirow.“ Der sowjetische Staat reagierte entsprechend hart, ging es doch darum, die Volksmacht zu schützen und eine Konterrevolution zu verhindern.
Allerdings spielte der durch den deutschen Geheimdienst rekrutierte Jeschow eine unrühmliche Hauptrolle. Er und seine Männer an der Spitze des NKWD zählten auf eine Invasion durch Deutschland, Japan oder ein anderes wichtiges kapitalistisches Land und betrieben nicht zu rechtfertigende Verfolgungen und Massenexekutionen in den Jahren 1937 und 1938.
vgl. hierzu: Gruver Furr: Die fortdauernde Revolution in der sowjetischen Gesellschaft während der Stalin-Zeit. In: Offen-siv 1/2016. S. 36 ff. [9] Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Querido Verlag. Amsterdam 1937 [10] ebenda [11] Josef Stalin: Geschichte der KPdSU(B). Kurzer Lehrgang. Verlag Neuer Weg. Berlin 1945. S. 435f.