Debatte in Venezuela: Hunger-Unruhen oder gezielte Provokationen?
Schwere Ausschreitungen in Cumaná dominieren politische Agenda. Medien sprechen von spontanen Aufständen, Beobachter vor Ort sehen Regierungsgegner am Werk
Caracas. Nach Ausschreitungen und Plünderungen in Cumaná im Nordwesten Venezuelas hat die Regierung von Präsident Nicolás Maduro der Bevölkerung mehr Lebensmittellieferungen zugesagt, die geschädigten Geschäften sollen Unterstützung beim Wiederaufbau erhalten.
In der Hauptstadt des Bundesstaates Sucre sind nach Angaben der Handelskammer am Montag und Dienstag über 100 Geschäfte – darunter Optiker, Banken, Bäckereien, Elektrogeräte- und Spirituosenläden, Supermärkte, Autohändler und Restaurants – geplündert und teilweise ganz zerstört worden. Mehr als 400 Personen wurden festgenommen, 32 bleiben in Haft und sollen vor Gericht gestellt werden. Urheber der Gewaltaktionen soll eine große Gruppe junger Männer auf Motorrädern gewesen sein, die im Stadtzentrum vorgefahren waren und begannen, Geschäfte zu demolieren und zu plündern. Dem schlossen sich offenbar Passanten an. Der Gouverneur von Sucre, Luis Acuña, verhängte ein 72-stündiges Verbot für Motorräder in der Stadt, die Schulen bleiben bis zum Montag geschlossen. Unter welchen Umständen zwei Männer am Rande der Ausschreitungen ums Leben kamen, ist noch unklar.
Laut Acuña sind die Unruhen von “rechten Gruppen angezettelt worden, um die örtlichen Regierungskomitees zur Versorgung und Produktion anzugreifen”. Diese seit April im Aufbau befindlichen Bürgerkomitees, die in Venezuela unter der Abkürzung Clap bekannt sind, haben die Verteilung von Nahrungsmitteln übernommen und sollen die Versorgungslage verbessern sowie den Schwarzmarkt ausschalten.
Auch in den Bundesstaaten Mérida und Anzoátegui kam es vereinzelt zu Ausschreitungen.
Während die der Opposition nahestehenden nationalen und internationalen Medien einheitlich von “Hungerkrawallen” und “Hungerprotesten gegen die Regierung” im ganzen Land sprechen, bezeichnen Vertreter der sozialistischen Regierung und lokaler Bürgerorganisationen die Vorfälle als gezielte Provokationen rechtsgerichteter Kräfte, die – ähnlich wie Anfang des Jahres 2014 – mit Gewaltaktionen versuchten, Chaos zu verbreiten und die Regierung zu stürzen.
Das Internetportal Misión Verdad bestätigt dies nach Befragungen von Augenzeugen in Cumaná. Demnach waren vor allem organisierte Gruppen an den Zerstörungen und Plünderungen beteiligt, unter ihnen auch vermummte bewaffnete Männer. Ihnen hätten sich regierungskritische Passanten angeschlossen. Polizei und Nationalgarde seien viel zu spät vor Ort gewesen.
Ähnliches berichten Bewohner des Vortores Lagunillas in der Andenstadt Mérida. Dort war es am Mittwoch vor einem staatlichen Lebensmittelmarkt zu massiven Unmutsäußerungen gekommen, nachdem der zuvor zugesagte Verkauf von Milch nicht zustande kam. Die Situation sei von einer organisierten Gruppe genutzt worden, um Barrikaden zu errichten und diese in Brand zu setzen. Auch griffen sie das Rathaus, einen Lastwagen der staatlichen Verteilerkette für Lebensmittel (PDVAL) sowie ein Lokalradio an und verübten einen Brandanschlag auf den Sitz der regierenden sozialistischen Partei (PSUV). Die Generalstaatsanwaltschaft hat wegen des Todesfalls die Ermittlungen übernommen.
Venezuela kämpft seit Anfang 2014 mit großen Problemen bei der Versorgung mit bestimmten Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Während aus Unternehmerkreisen erklärt wird, dass die festgesetzten Preise in vielen Bereichen unterhalb der Produktionskosten lägen und die Wirtschaft lähmten, beschuldigt die Regierung Firmen und Zwischenhändler, Produkte zu horten oder sie zu überhöhten Preisen auf den Schwarzmarkt zu lenken. Ferner geben offizielle Schätzungen an, dass bis zu 40 Prozent der Lebensmittel, die für den heimischen Markt bestimmt sind, nach Kolumbien geschmuggelt und dort teurer verkauft werden.
Nach Angaben des in Venezuela lebenden Journalisten Lucas Koerner agitieren Regierungsgegner landesweit in den Warteschlangen vor den Lebensmittelgeschäften. Zugleich nehme die Unruhe in der Bevölkerung angesichts der tiefen ökonomischen Krise zu. Der Einbruch des Erdölpreises – die Quelle von 96 Prozent der Exporteinnahmen Venezuelas – ließ die Deviseneinnahmen des Landes nahezu auf Null fallen und zwang die Regierung, Importe zu reduzieren. Auch dies hat zum akuten Mangel bei Grundbedarfsgütern beigetragen. In den ersten Monaten dieses Jahres habe die Bevölkerung durch Weihnachtsgeld noch ein Polster gegen die steigende Inflation gehabt, aber seit April sei die Kaufkraft gesunken. Die von der Regierung Maduro ergriffenen Maßnahmen, um die Auswirkungen der Krise zu mildern, wie etwa die Bürgerkomitees oder andere staatliche Verteilernetzwerke, sind bislang unzureichend, so Koerner.