Otto Grotewohl: Zur Struktur der Arbeiterklasse

Grotewohl

Der erste DDR-Ministerprasident, Otto Grotewohl

Wenn man sich heute die gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD und in anderen hochentwickelten kapitalistischen Ländern anschaut, so entsteht leicht der Eindruck, daß es heute keine Arbeiterklasse mehr gäbe. Auch wenn sich die Technologie und die Art der Arbeit in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert und weiterentwickelt haben: Dieser Eindruck ist falsch! Die Arbeiterklasse unterscheidet sich von der Ausbeuterklasse vor allem dadurch, daß ein Arbeiter, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, auf den Verkauf seiner Arbeitskraft angewiesen ist, während der Kapitalist, der über das Eigentum an Produktionsmitteln verfügt, seinen Lebensunterhalt in erster Linie aus den durch die Ausbeutung der besitzlosen Klassen erzielten Profiten bestreitet. Das ist der entscheidende Unterschied! Über den Einfluß des Imperialismus auf die Struktur der Arbeiterklasse schreibt Otto Grotewohl:

Ebenso wie die materielle Lage wurde auch die soziale Struktur der Arbeiterklasse durch den Übergang zum Imperialismus weitgehend beeinflußt. Hier sind es vor allem drei Faktoren, die in der Periode des aufkommenden Imperialismus eine hohe Bedeutung gewannen:

  • der sich mehrende Zustrom kleinbürgerlicher Elemente ins Proletariat,
  • die Herausbildung einer Arbeiteraristokratie, d.h. einer Schicht von privilegierten besser bezahlten Arbeitern, die in Gegensatz zu der Masse der Arbeiterschaft geriet,
  • das Anwachsen der Zahl der Angestellten in den Organisationen der Arbeiterschaft und die Gefahr ihrer Loslösung von den Massen.

1) Das Einströmen bürgerlicher Elemente

klassenstrukturDer Siegeszug der Monopole in der kapitalistischen Wirtschaft bewirkte, daß ständig zahlreiche mittlere und kleine Unternehmen vernichtet oder aufgesogen, viele ihrer Besitzer und Angestellten an den Bettelstab gebracht wurden. Diese ins Proletariat Hinabgeschleuderten und Deklassierten brachten ihre kleinbürgerlichen Vorurteile, ihre engstirnige Denkweise mit und verharrten meist noch lange in rückständigen, kleinbürgerlichen Ideologien. Sie empfanden ihre Lage nicht als Auswirkung eines gesellschaftlichen Prozesses, der sich mit historischer Gesetzmäßigkeit vollzieht, sondern als persönliches Pech, als einen zufällig ihnen begegneten Schicksalsschlag. Sie sehnten sich zurück nach der verlorenen bürgerlichen Existenz und erwarteten ihre soziale Aufwertung von Sofortmaßnahmen, sozialen Verbesserungen, Reformen und dergleichen. Sie erstrebten jedoch keine grundlegende Änderung des gesellschaftlichen Systems. Noch völlig befangen im kleinbürgerliehen egozentrischen Denken, vermochten sie noch nicht die große gesellschaftliche Aufgabe des Proletariats zu erkennen. Sie stellten, wie Lenin sagt, die „Rekruten der Arbeiterbewegung dar, die erst einer ‘gründlichen Ausbildung’ im Klassenbewußtsein bedürfen.“ [1]

Das galt auch für die Mittelschichten, die in der imperialistischen Epoche immer wieder neu geschaffen werden, die beispielsweise als Filialleiter, Besitzer von erforderlichen neuen Reparatur- und Ergänzungsbetrieben, in der Heimarbeit und im Handel scheinbar selbständige oder doch gehobene Existenzen fanden und sehr schnell bürgerliche Denk- und Lebensweise annahmen.

Gewiß hat es nicht an warnenden Stimmen gefehlt. Schon Karl Marx und Friedrich Engels hatten sich wiederholt gegen die leichtfertige, allzu entgegenkommende und nachsichtige Behandlung der in der Partei sich breitmachenden Spießer und Kleinbürger gewandt. Es sei nur auf den Zirkularbrief vom September 1879 hingewiesen, wo sie mit aller Deutlichkeit die Verderblichkeit des kleinbürgerlichen Einflusses aufzeigten und seine Ausmerzung forderten.

„Es sind die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat, durch seine revolutionäre Lage gedrängt, möge ‘zu weit gehen’.“ [2]
„Das kleinbürgerliche Element in der Partei bekommt mehr und mehr Oberwasser. Der Name von Marx soll möglichst unterdrückt werden. Wenn das so vorangeht, so gibt es eine Spaltung in der Partei, darauf kannst Du Dich verlassen.“ [3]

„Wenn solche Leute aus anderen Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, daß sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen usw. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen. Jene Herren aber, wie nachgewiesen, stecken über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen … Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weniger in. die Hand, so wird die Partei einfach entmannt, und mit dem proletarischen Schneid ist’s am Ende. Was uns betrifft, so steht uns nach unserer ganzen Vergangenheit nur ein Weg offen. Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Macht der Geschichte und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben; wir können also unmöglich mit Leuten zusammengehen, die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen.“ [4]

Auch später haben verantwortungsbewußte Führer gegen die Ausbreitung kleinbürgerlicher Einflüsse, gegen die Verspießerung ihre Stimme erhoben. So August Bebel, der 1903 auf dem Parteitag in Dresden die reformistische Einstellung und das anmaßende Auftreten mancher aus Konjunkturgründen zur Partei gestoßenen Akademiker und der „ehemaligen Proletarier in gehobenen Lebensstellungen, Leute, die eben jetzt einen gewissen Abschluß ihrer Lebenslage sehen“, in scharfen Worten geißelte und gegen die Vertuschung, die Überbrückung der Gegensätze zwischen Proletariat und bürgerlicher Gesellschaft wetterte.


2) Die Herausbildung einer Arbeiteraristokratie

wohlstandIndessen hätte dieses Einströmen bürgerlicher Elemente und damit zugleich bürgerlicher Ideologien ins Proletariat durch die allmähliche Umschmelzung inmitten einer geschlossenen, klassenbewußten, politisch und ideologisch richtig geführten Arbeiterschaft und durch zielbewußte Einwirkung ohne Schädigung bleiben können.

Die Geschlossenheit des Proletariats wurde jedoch gerade durch die Einwirkungen des Monopolkapitalismus stärkstens gelockert. Hatte die Überschätzung der auf die Augenblicksinteressen, gerichteten Politik schon dazu geführt, daß viele Arbeiter sich durch vorübergehende und nur begrenzt positive Auswirkungen des Imperialismus blenden ließen und darüber die ganze Gefährlichkeit dieses Systems übersahen, mit ihm liebäugelten, Frieden schlössen und von ihm alles Heil erhofften, so gewann der Imperialismus durch die planvolle Heranzüchtung einer Arbeiteraristokratie eine weitere, nicht unbeträchtliche Zahl von Arbeitern für sich, die den von Marx gewiesenen revolutionären Weg verließen und zu verläßlichen Stützen, Verteidigern und Lobrednern des Monopolkapitalismus wurden.

„Der Imperialismus“, so führte Lenin aus, „hat die Tendenz, auch unter den Arbeitern privilegierte Kategorien auszusondern und von der Masse des Proletariats abzuspalten.“ [5]

Und in seinem Brief an die amerikanischen und europäischen Arbeiter sagt Lenin:

„… in allen zivilisierten fortgeschrittenen Ländern raubt die Bourgeoisie — auf dem Wege entweder der kolonialen Unterdrückung oder des Herausziehens finanzieller ‘Vorteile’ aus formell unabhängigen schwachen Völkern — eine Bevölkerung aus, die die Bevölkerung ‘ihres’ Landes um ein Vielfaches übertrifft. Daher die ökonomische Möglichkeit der ‘Extraprofite’ für die imperialistische Bourgeoisie und der Verwendung von einem Teil dieses Extraprofits zur Bestechung einer gewissen Oberschicht des Proletariats, um sie in reformistisches, die Revolution fürchtendes Kleinbürgertum zu verwandeln.“ [6]

Diese Bestechung einer kleinen Schicht von Arbeitern erfolgte bald in plumpen, bald in höchst raffinierten, kaum erkennbaren, dann aber um so wirkungsvolleren Formen. Geeignete Objekte in der Arbeiterschaft erhielten als angeblich qualifiziertere Facharbeiter, als Aufseher, Vorarbeiter, Lagerverwalter, Kontrolleure u.ä. höhere Einkommen und günstigere Arbeitsbedingungen. Es ist erwiesen, daß die so Begünstigten in der Mehrzahl der Fälle sich allmählich in ihrer Lebenshaltung und Denkweise den bürgerlichen anpaßten, sich mehr und mehr von der proletarischen Klassengrundlage entfernten, die Sorge um die Erhaltung und Verbesserung ihrer Posten, um die Versorgung ihrer Kinder höher schätzten als die Solidarität mit den Massen, als den Kampf um die soziale Befreiung der gesamten Arbeiterklasse. Die Aussicht opfervoller Kämpfe flößte ihnen vielmehr Furcht und Abneigung gegen revolutionäre Kampfmethoden ein. Diese Schichten bildeten darum einen günstigen Nährboden für den Opportunismus, für alle Abirrungen von der marxistischen Theorie und Praxis, für versöhnlerische Tendenzen und falsche, undialektische Beurteilungen der Entwicklung des Kapitalismus im Zeitalter des Imperialismus. Das deutsche Monopolkapital sparte darum nicht mit Mitteln, um durch die Züchtung einer solchen Arbeiteraristokratie die Front der Arbeiterschaft zu durchbrechen und in ihre Reihen den Samen der Zwietracht untereinander und des faulen Klassenfriedens mit den Kapitalisten zu säen.


3) Das Anwachsen der Bürokratie in den Arbeiterorganisationen

buerokratieDiesem Bestreben kam die unausgesetzte Erweiterung des umfangreichen Verwaltungsapparates in der sozialdemokratischen Partei, in den Gewerkschaften und den verschiedenen sozialen und kulturellen Organisationen entgegen. Hatte diese uneingeschränkte Gewinnung Tausender von klassenbewußten Arbeitern für die an der Verwirklichung der Ziele der Arbeiterschaft arbeitenden Organisationen deren Stoßkraft beträchtlich erhöht, so brachte auch hier die unabhängige quantitative Vermehrung schließlich den qualitativen Umschlag.

Die ständige Vermehrung der neu einzustellenden hauptamtlichen Funktionäre in den genannten Organisationen gestattete nicht mehr eine so sorgfältige Auslese wie bisher, zwang vielmehr zum Rückgriff auf solche Bewerber, die hinsichtlich ihrer Verbundenheit mit dem Sozialismus, ihres Klassenbewußtseins, nicht immer so qualifiziert sind, wie man es bis dahin forderte. In wachsender Zahl traten aus dem Bürgertum kommende Abgeordnete, Schriftsteller, Redakteure und andere Funktionäre hervor, die ihre antimarxistischen klassenfremden Auffassungen mitbrachten und die marxistische Bewegung oft nur als eine soziale Reformbewegung betrachteten.

Die mit dem Anwachsen der Organisationen entstehende und sich mehrende Kompliziertheit der Verwaltung, der Kassenführung, des Geschäftsverkehrs usw. hatte zur Folge, daß man bei der Auswahl der einzustellenden Kräfte oft mehr auf die formalen Fähigkeiten als auf die Parteiverbundenheit, auf die Vertrautheit mit dem Marxismus sah.
Die hohe Entlohnung führte in vielen Fällen bei weiterer Erhöhung nicht zu gesteigerter Arbeitsfreudigkeit und Hingabe an die Sache der Arbeiterschaft, sondern zu einer Lockerung der Verbundenheit mit den Massen.

So erklärte sich auch die stürmische Zustimmung, die August Bebel fand, als er auf dem Magdeburger Parteitag 1910 ausrief:

„Ich habe oftmals den Eindruck, daß ein Teil unserer Führer nicht mehr versteht, was die Massen zu leiden haben, daß sie der Lage der Massen entfremdet sind…Die Parteigenossen müssen darüber wachen, daß die Parteiführer der Partei keinen Schaden zufügen. Seht den Führern auf die Finger, seht auch Euren Redakteuren auf die Finger.“ [7]

Viele der durch die Arbeiterorganisationen Emporgehobenen gerieten durch die Übernahme bürgerlichen Lebensstils zu bürgerlichen Vorurteilen, entfremdeten sich den Massen und verletzten sie oft durch ihr Benehmen. Auch bei ihnen stellte sich, wie bei den Arbeiteraristokraten, die Sorge um Erhaltung und Ausbau der errungenen persönlichen Positionen ein. Sie wurden sich bewußt, daß sie bei etwaigen scharfen oder gar revolutionären Auseinandersetzungen mit dem Klassenfeind mehr zu verlieren hatten als ihre Ketten. Deshalb scheuten oder verabscheuten sie den revolutionären Weg, plädierten für den Weg der Reformen, neigten zum Opportunismus, zu Kompromissen mit dem Klassenfeind, zur Revision, zur Preisgabe des Marxismus, zur Einstellung des Klassenkampfes. Diese Entwicklung trat nicht nur in der Partei, sondern auch besonders in den Gewerkschaften hervor. So wurden die Organisationen, je mehr sie in die Breite wuchsen und je schwerer das Bleigewicht ihres Verwaltungsapparates wurde, aus Hebeln des sozialen und politischen Fortschritts in gewissem Sinne zu Hemmschuhen. Indem die Parteiführung die Gefahren der Verbürgerlichung, der Entstehung einer Arbeiteraristokratie und der Loslösung gewisser Funktionäre von den Massen nicht in ihrer vollen Bedeutung erkannten und nicht energisch genug bekämpften, bahnten sie indirekt dem Opportunismus und dem Revisionismus den Weg.

Zitate:
[1] Vgl. Lenin, „Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung.“
[2] Engels an Bebel, 24. November 1879.
[3] Engels an Liebknecht, 4. Februar 1885.
[4] Karl Marx, „Kritik des Gothaer Programms”, Berlin 1946, S. 102 f.
[5] Lenin, „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, Verlag Neuer Weg, Berlin 1946, S. 93.
[6] Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XXIII, S. 644.
[7] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages von 1903, S. 311.
[8] Parteitagsprotokoll von 1910.

Quelle:
Otto Grotewohl: 30 Jahre später – Die Novemberrevolution und die Lehren aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Dietz Verlag Berlin, 1948, S.23-29.

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