Der Gegensatz zwischen Stadt und Land, die Herausbildung der Bourgeoisie und der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise
von Otto Finger
Die „Deutsche Ideologie“ skizziert Entstehung und Entwicklungsprozess der bürgerlichen Klasse insbesondere anhand einer Untersuchung der Trennung von Kapital und Grundeigentum, deren kapitalistische Überwindung die Verwandlung von Grundeigentum in Kapital ist. Der Sieg der Stadt über das Land ist nichts anderes als die Beherrschung der ganzen Gesellschaft, der industriellen und agrarischen Produktion durch die Bourgeoisie.
Die „Deutsche Ideologie“ entwirft in großen Zügen das Bild von der Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion mit ihren gewaltigen Fortschritten der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit und ihren inneren Widersprüchen, an denen dieses Wirtschaftssystem zwangsläufig zugrunde geht. Kurz, der folgende revolutionstheoretische Grundgedanke des „Manifests der Kommunistischen Partei“ wird hier vorbereitet und in einer Reihe von Aspekten historisch entwickelt: Die Bourgeoisie untergräbt mit der Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie den Boden, auf dem ihre Herrschaft ruht, sie beginnt mit der Freisetzung kolossaler Produktivkräfte die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse selbst infrage zu stellen, und sie produziert die Kraft, die ihre revolutionäre Sprengung durchführen wird, die Proletarier. Die „Deutsche Ideologie“ verfolgt die Hauptetappen in der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion und der Arbeitsteilung, worin die Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft, die Bourgeois und die Proletarier, sich als antagonistische Klassen herausbilden.
„Die größte Teilung der materiellen und geistigen Arbeit ist die Trennung von Stadt und Land.“ [1/159] Die Stadt wird zum ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kristallisationspunkt dieser Trennung. Mit der Stadt entstehe die Notwendigkeit der Administration, der Polizei, der Steuern usf., ja, der Politik überhaupt; denn hier habe sich zuerst die Teilung der Bevölkerung „… in zwei große Klassen“ gezeigt, „die direkt auf der Teilung der Arbeit und den Produktionsinstrumenten beruht“. [2/160] –
Die Stadt als Ausgangspunkt der kapitalistischen Warenproduktion konzentriert die Produktionsinstrumente, die Bevölkerung, die Bedürfnisse, das Geld, das Kapital. Das Land erscheint als das Gegenteil, als die Isolierung und die Vereinzelung. Der Gegensatz von Stadt und Land ist nach Marx und Engels der „… krasseste Ausdruck der Subsumtion der Individuums unter die Teilung der Arbeit, unter eine bestimmte, ihm aufgezwungene Tätigkeit, eine Subsumtion, die den Einen zum bornierten Stadttier, den Andern zum bornierten Landtier macht und den Gegensatz der Interessen beider täglich neu erzeugt. … Die Trennung von Stadt und Land kann auch gefasst werden als die Trennung von Kapital und Grundeigentum, als der Anfang einer vom Grundeigentum unabhängigen Existenz und Entwicklung des Kapitals, eines Eigentums, das bloß in der Arbeit und im Austausch seine Basis hat.“ [3/161]
Der Gegensatz von Stadt und Land entspringt so wiederum einer Veränderung in der Produktionsweise selbst, der Herausbildung eines neuen Produktions- und Eigentumsverhältnisses, eben des Kapitals, vergegenständlichter Arbeit, und des Austausches kapitalistisch erzeugter Produkte, der Waren. Es ist somit ein Ausdruck des Gegensatzes zwischen dem sich entwickelnden Kapitalismus und dem fortbestehenden Feudalismus, zwischen der neuen Klasse kapitalistischer Eigentümer von Produktionsinstrumenten und der alten Klasse feudaler Grundeigentümer.
In beiden Bereichen, in der kapitalistischen Produktion der Städte und in der feudalistischen Produktion des Landes, findet die Unterordnung der Menschen unter die Arbeitsteilung als eine aufgezwungene, nicht selbstgewählte, nicht freie Betätigung statt. Der leibeigene Bauer wie der Geselle, später der Industriearbeiter der Stadt verrichten einseitige Arbeit, sind unter ihre Produktionsbedingungen gezwungen. In beiden Fällen ist die Arbeit eine „Macht über den Individuen“, wird sie unter Bedingungen der Herrschaft der kapitalistischen bzw. feudalen Eigentümer verrichtet. Wenn nun auch nach dem Sieg des Kapitalismus, der Umwandlung der Agrarproduktion in einen kapitalistischen Produktionszweig ein Gegensatz zwischen Stadt und Land fortdauert – Marx und Engels nennen die Aufhebung dieses Gegensatzes eine der „ersten Bedingungen der kommunistischen Gemeinschaft“ –, dann aus folgendem Grunde: Die Stadt ist zunächst dem Lande eine ganze Epoche voraus, eben in den oben genannten Vorgängen der Konzentration der Produktion usf., aber auch in der Konzentration der „Genüsse“, d. i. der Kultur und Zivilisation, wie Marx und Engels betonen. –
Die kapitalistische Umwälzung auf dem Land vollzieht sich schleppend – sie ist selbst im Stadium des Imperialismus noch nicht abgeschlossen. Die Reste des Feudalismus erweisen sich als äußerst zählebig. Damit also auch die Tendenz zur produktionstechnischen, geistig-kulturellen, zivilisatorischen, politischen Rückständigkeit. Erst die sozialistische Revolution beseitigt die Klassengrundlagen dieses Gegensatzes und schafft die materiellen und ideologischen Voraussetzungen für die kommunistische Aufhebung des Unterschieds der Lebensweise zwischen Stadt und Land.
„Die nächste (neben der mittelalterlichen Arbeitsteilung zwischen den Handwerkszünften und auf eine Trennung materieller und geistiger von Stadt und Land folgende; O. F.) Ausdehnung der Teilung der Arbeit war die Trennung von Produktion und Verkehr, die Bildung einer besondern Klasse von Kaufleuten …“ [4/162] Diese Arbeitsteilung nun, diese Herausbildung des Kaufmannskapitals als einer Voraussetzung des Industriekapitals, führt mit seiner Ausdehnung der Handelsverbindungen, der Kommunikationsmittel, der Herstellung vielfältiger Verbindungen zwischen den Städten zur allmählichen Herausbildung der sozialökonomischen und ideologisch-politischen Bedingungen für die Formierung des städtischen Bürgertums zur Klasse.
Es entsteht die bürgerliche Klasse, zunächst zusammengehalten durch ihren Gegensatz gegen den Feudaladel, bald als Klasse im offenen Gegensatz geratend zu dem von ihr selbst erzeugten Proletariat:
„Die Bürger in jeder Stadt waren im Mittelalter gezwungen, sich gegen den Landadel zu vereinigen, um sich ihrer Haut zu wehren; die Ausdehnung des Handels, die Herstellung der Kommunikationen führte die einzelnen Städte dazu, andere Städte kennenzulernen, die dieselben Interessen im Kampfe mit demselben Gegensatz durchgesetzt hatten. Aus den vielen lokalen Bürgerschaften der einzelnen Städte entstand erst sehr allmählich die Bürgerklasse. Die Lebensbedingungen der einzelnen Bürger wurden durch den Gegensatz gegen die bestehenden Verhältnisse und durch die davon bedingte Art der Arbeit zugleich zu Bedingungen, welche ihnen allen gemeinsam und von jedem einzelnen unabhängig waren. Die Bürger hatten diese Bedingungen geschaffen, insofern sie sich von dem feudalen Verbande losgerissen hatten, und waren von ihnen geschaffen, insofern sie durch ihren Gegensatz gegen die Feudalität, die sie vorfanden, bedingt waren. Mit dem Eintreten der Verbindung zwischen den einzelnen Städten entwickelten sich diese gemeinsamen Bedingungen zu Klassenbedingungen. Dieselben Bedingungen, derselbe Gegensatz, dieselben Interessen mussten im Großen und Ganzen auch überall gleiche Sitten hervorrufen. Die Bourgeoisie selbst entwickelt sich erst mit ihren Bedingungen allmählich, spaltet sich nach der Teilung der Arbeit wieder in verschiedenen Fraktionen und absorbiert endlich alle vorgefundenen besitzenden Klassen in sich (während sie die Majorität der vorgefundenen besitzlosen und einen Teil der bisher besitzenden Klassen zu einer neuen Klasse, dem Proletariat, entwickelt), in dem Maße, als alles vorgefundene Eigentum in industrielles oder kommerzielles Kapital umgewandelt wird.“ [5/163] –
In dieser Weise fassen Marx und Engels den Entstehungsprozess der bürgerlichen Klasse zusammen. Es ist eine materialistische und dialektische Analyse, sofern sie den Prozess der Bildung der Bourgeoisie primär aus den objektiven Produktionsbedingungen herleitet und ihn zugleich in seinem Widerspruch begreift. Genauer: Als Resultat des mit den neuen Produktivkräften sich herausbildenden Widerspruchs zum Feudalsystem. –
Hervorzuheben ist als für die Theorie der proletarischen Revolution in diesem Zusammenhang wichtig:
Erstens absorbiert die Bourgeoisie alle vorgefundenen besitzenden Klassen in sich. Die Klassenverhältnisse werden also vereinfacht. Das Proletariat sieht sich einem hauptsächlichen Gegner, der Bourgeoisie, gegenüber.
Zweitens bildet diese Klasse auf der Grundlage der Arbeitsteilung in der Bourgeoisie selbst – der Arbeitsteilung in verschiedenen Industriezweigen z. B. oder der Arbeitsteilung zwischen industrieller und Finanzbourgeoisie – kein homogenes Ganzes. Sie ist, wie Marx und Engels betonen, in Fraktionen gespalten, Fraktionen, die sich auch aus der unterschiedlichen Größe des Eigentums ergeben und Interessengegensätze einschließen. Für die Bestimmung der Strategie und Taktik revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse erweist sich dies in allen Perioden als sehr wesentlich.
Drittens ist diese Klasse durch die Wolfsgesetze der kapitalistischen Warenproduktion selbst in miteinander feindlich konkurrierende Kapitalisten aufgespalten.
Viertens freilich ist folgende, den eben genannten Momenten widersprechende und im großen und ganzen dominierende Tendenz festzuhalten: obzwar durch Konkurrenz und Fraktionskämpfe gespalten, bilden die Individuen der Bourgeoisie insofern eine Klasse, „… als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andre Klasse zu führen haben …“ [6/164]
Letzteres gilt selbstredend sowohl in der antifeudalen Aufstiegsphase der Bourgeoisie als auch in der imperialistischen Untergangsphase dieser Klasse. Die als zweiter und dritter Punkt genannten Aspekte der Klassensituation der Bourgeoisie dürfen in der revolutionären Politik der Arbeiterklasse weder außer acht gelassen noch überbewertet werden. Beides würde zu Fehlverhalten führen. –
Sieht man die Bourgeoisie schematisch als homogenes Ganzes, übersieht man beispielsweise die Widersprüche zwischen mittlerer und Großbourgeoisie, zwischen der Bourgeoisie einzelner Länder, die Gegensätze insbesondere zwischen den imperialistischen Hauptländern, so kann das zur opportunistischen Überbewertung der Stärke der Bourgeoisie, zum Missachten revolutionärer Chancen für den Sturz der Bourgeoisie eines bestimmten Landes führen. –
Übertreibt man den Gesichtspunkt der Zersplitterung der Bourgeoisie, verkennt man, dass das gemeinsame gegen die Arbeiterklasse und gegen den Kommunismus gerichtete Interesse der Bourgeoisie als ganzes den Tendenzen der Aufspaltung entgegenwirkt, durchaus eine antikommunistische Aktionseinheit, heute eine globale Strategie des Antikommunismus praktiziert wird – wird dies alles verkannt, so kann man zu einer abenteuerlichen, im Grunde gegenrevolutionären Anschauung vom Imperialismus als einem „Papiertiger“ gelangen. Die konkret-historische, materialistisch-dialektische Analyse der Klassensituation der Bourgeoisie, wie sie schon in der „Deutschen Ideologie“ angelegt ist, schließt solche Fehler aus.
In der Entwicklungsgeschichte des kapitalistischen Privateigentums, das die Grundlage für den Aufstieg der Bourgeoisie bildet, unterscheiden Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ drei Perioden. Eine erste, aus dem feudalen Mittelalter und seiner zünftig-handwerklichen Produktion deutlich zum Kapitalismus treibende Periode ist die Herausbildung des Kaufmannskapitalismus und der Manufakturen. [7/165] Für die schon hierbei keimhaft auftretenden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise sind zwei Vorgänge charakteristisch, die Marx und Engels in diesem Zusammenhang hervorheben:
1. An die Stelle des patriarchalischen Verhältnisses zwischen dem Meister und dem Gesellen in der Periode des Zunfthandwerkes tritt mit der Manufaktur „… das Geldverhältnis zwischen Arbeiter und Kapitalist“ [8/166]. Die Arbeit in ihrer Gestalt beginnt für beide, Arbeiter und Kapitalist, gleichgültig zu werden. Mit der Manufaktur, der Vorstufe industrieller Produktion, beginnt die Arbeit, verglichen mit der Vielseitigkeit der mittelalterlichen Handwerksarbeit, einseitig zu werden. Der mittelalterliche Handwerker hatte noch ein „gemütliches Knechtschaftsverhältnis“ zu seiner Arbeit. Jetzt beginnen sich die Voraussetzungen für das „… Interesse an ihrer speziellen Arbeit und an der Geschicklichkeit darin, das sich bis zu einem gewissen bornierten Kunstsinn steigern konnte“ [9/167], aufzulösen in das Interesse an bloßen Arbeitslohn. Weil er eine einseitige Arbeit leistet, unter der Gewalt des Kapitals steht, von ihm im Arbeitsprozess ausgebeutet und unterdrückt wird, wird der Arbeiter gleichgültig gegen seine Arbeit. Das Herrschaftsverhältnis zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ist durch das Geld vermittelt. Es hat jede persönliche Form abgestreift.
2. Der Handel gewinnt nun politische Bedeutung. Im Manufakturzeitalter entwickelt sich der Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Nationen: Er wird ausgetragen in Handelskriegen, in Form von Schutzzöllen und Prohibitionen.
Die zweite Periode (Mitte des 17. bis Ende des 18. Jhs.) steht im Zeichen der Ausdehnung des Handels und der Schifffahrt: es kommt zur Entstehung des kapitalistischen Kolonialsystems und Weltmarktes: „… die Kolonien fingen an, starke Konsumenten zu werden, die einzelnen Nationen teilten sich durch lange Kämpfe in den sich öffnenden Weltmarkt … Die zur See mächtigste Nation, die Engländer, behielten des Übergewicht im Handel und der Manufaktur.“ [10/168]
In der dritten Periode bilden sich schließlich jene Widersprüche aus, deren Analyse Marx und Engels zur Theorie der Revolution des Proletariats und – damit unmittelbar verflochten – zur Begründung der notwendig kommunistischen Entwicklungsstufe der Menschheit führten. Es ist die Periode, in welcher der industrielle Kapitalismus sich herausbildet. England, das Land, in dem sich Handel und Manufaktur konzentrierten, erhielt einen relativen Weltmarkt, dessen Nachfrage durch die Manufaktur nicht mehr befriedigt werden konnte. Diese Faktoren schufen hier erstmalig die „… große Industrie – die Anwendung von Elementarkräften zu industriellen Zwecken, die Maschinerie und die ausgedehnteste Teilung der Arbeit …“ [11/169]«
Anmerkungen
1/159 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 50.
2/160 Ebenda.
3/161 Ebenda.
4/162 Ebenda, S. 52.
5/163 Ebenda, S. 53 f.
6/164 Ebenda, S. 54.
7/165 »Die genauere und zusammenfassende Analyse dieser Entwicklungsgeschichte gibt Marx im 1. Bande des „Kapitals“. Die Grundpositionen sind bereits in der „Deutschen Ideologie“ angelegt. Desgleichen auch die nrevolutionären Schlussfolgerungen aus dieser Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus.«
8/166 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 56.
9/167 Ebenda, S. 52.
10/168 Ebenda, S. 58.
11/169 Ebenda, S. 69.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Autor: Otto Finger. Vgl.: [5.20. Arbeitsteilung und Klassenwiderspruch, bereits am 27.02.2012; R. S.] 5.21. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land, die Herausbildung der Bourgeoisie und der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.
22.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)