Materialistische und proletarische Kritik bürgerlicher Staatsauffassung

von Otto Finger

Für die Herausbildung des revolutionären Klassenbewusstseins des Proletariats ist jedoch schon die vergleichsweise allgemeine Kennzeichnung des Staates in der „Heiligen Familie“ und die hier vorgenommene Kritik bürgerlicher Ideologie in Sachen Staat von erheblicher Bedeutung. Tatsächlich treibt Marx hier jene Analyse des Verhältnisses von Staat und bürgerlicher Gesellschaft weiter, der wir in der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ und in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ begegnet waren. Die Analyse wird insbesondere in Form einer Kritik der junghegelianischen Irrtümer über das Wesen der französischen Revolution von 1789 und den Charakter des napoleonischen Staates konkretisiert. Marx nimmt dabei gleichzeitig ein wesentliches Stück Ideologiekritik vor, indem er die Selbsttäuschungen sowohl der Jakobiner als auch Napoleons über die wirkliche Rolle ihrer Aktionen und ihrer Politik aufzeigt.

Marx hebt den Widerspruch auf zwischen den ideologischen Illusionen der Robespierre und Saint-Just über den bürgerlichen Staat und der gesellschaftlichen Realität, der er entspricht. Ein ideologiekritisches Thema des „18. Brumaire“ vorwegnehmend zeigt Marx, dass sie Gefangene ihrer eigenen heroischen Illusionen waren – und an ihr auch zugrunde gingen –, das demokratische Gemeinwesen der Antike wiederhergestellt zu haben. –

Die sozialökonomische Grundlage des antiken Staats war das „wirkliche Sklaventum“; die Grundlage des modernen bürgerlichen Staates ist das „emanzipierte Sklaventum“ – die Versklavung der arbeitenden Menschen geschieht jetzt auf dem Boden der „freien“ Arbeit, einer Arbeit, die emanzipiert ist von den feudalen Fesseln, die als Ware „frei“ gekauft und verkauft werden kann. –

Der Marxsche Ausdruck vom „emanzipierten Sklaventum“ macht den wirklichen Inhalt dieser in den sogenannten „Menschenrechten“ sanktionierten Freiheiten kenntlich: Die Arbeit wurde im Kapitalismus nur soweit freigesetzt, wie sie gemäß den kapitalistischen Produktionsbedingungen ausbeutbar ist. –

Die neuen Bedingungen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die neuen Produktionsverhältnisse des Kapitalismus [Anm.: bürgerliche ZuhälterInnen der aktuellen „neuen Bedingungen“ sagen auch “Soziale Marktwirtschaft“; R. S.] nlassen sich politisch nicht in den alten Formen des antiken Staates ausdrücken. Die antike Demokratie war, wie Marx sagt, ein „realistisch-demokratisches“ Gemeinwesen, gerade weil sie auf dem wirklichen Sklaventum beruht. Das heißt: Es war eine Demokratie für die Sklavenhalter. Nur sie zählten als Bürger und Menschen. –

Die Sklaven galten als bloße Arbeitsinstrumente, als „sprechende Werkzeuge“ nach einem Wort des Aristoteles. Die kapitalistische Produktionsweise brauchte zu ihrer Entwicklung Arbeitskräfte, die weder in der Form der antiken Sklaverei noch in der Form der feudalen Leibeigenschaft unmittelbar an eine bestimmte Person des Ausbeuters gebunden sind, Knecht genau dies Herrn, Werkzeug dieses Sklavenhalters, von ihm besessen wie ein Ding, sondern eine von diesen unmittelbaren Fesseln befreite Arbeitskraft, dem kapitalistischen Eigentümer frei verfügbar.

Diese neue Form der Verfügung der Eigentümer über die arbeitenden Menschen spricht sich in der bürgerlichen Ideologie als die Freiheit des Menschen schlechthin aus, als Menschenrecht überhaupt, als Demokratie für alle. –

Ihr wahrer Inhalt ist: Alle Glieder der Gesellschaft werden nunmehr den Gesetzen der kapitalistischen Produktion unterworfen. –

Sie müssen deshalb tatsächlich von den Unfreiheiten, den Privilegien, den Autoritäten der feudalen Gesellschaft befreit werden. Der Vorgang dieser Emanzipation fällt allerdings zusammen mit der Sanktionierung der neuen, spezifisch kapitalistischen Unfreiheiten und Gewaltanwendungen gegen die Masse aller Menschen. –

Die bürgerlichen Verhältnisse entsprechen also allem anderen als dem verkündeten Wortinhalt von Demokratie; der Volksherrschaft. Sie sind Verhältnisse der Herrschaft über das Volk, der Beherrschung der werktätigen Volksmassen durch eine Minderheit von Kapitalbesitzern. Welche Herrschaft gleichwohl in der bürgerlichen Ideologie – und auf der objektiven Grundlage der angedeuteten Veränderungen in der Produktionsweise – als Demokratie erscheint. –

Sie ist es nur in der Ideologie, in den falschen Ideen der bürgerlichen Epoche, nicht aber in der gesellschaftlichen Realität. In diesem Sinne spricht Marx von dem modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentationsstaat:

Robespierre, Saint-Just und ihre Partei gingen unter, weil sie das antike, realistisch-demokratische Gemeinwesen, welches auf der Grundlage des wirklichen Sklaventums ruhte, mit dem modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat, welcher auf dem emanzipierten Sklaventum, der bürgerlichen Gesellschaft, beruht, verwechselten. Welche kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität – in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen und zugleich Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise bilden zu wollen.“ [1/27]

Im zitierten Gedankengang wird auf eine revolutionäre Aufgabe hingezielt, wenn Marx von der bürgerlichen Gesellschaft als einer Gesellschaft der Konkurrenz und der Anarchie spricht, sie als eine Gesellschaft verurteilt, worin die „natürliche und geistige Individualität von sich selbst entfremdet“ sind. Innerhalb der an das Kapital gefesselten Arbeit ist keine freie, bewusste, geplante Selbstverwirklichung des arbeitenden Menschen möglich. –

Wiederum enthält die Kritik der kapitalistischen Wirklichkeit, vom Standpunkt des Arbeiters in ihr vorgenommen, den Ansatz zur Begründung der Notwendigkeit und des Ziels der Revolution. Notwendig ist die Überwindung solcher Verhältnisse, in denen Konkurrenz und Anarchie, in denen die Industrie selbst die volle Entwicklung der reichen Individualität des arbeitenden Menschen, die allseitige, physische und geistige Entfaltung seiner Persönlichkeit unmöglich machen. –

Und als humanistisches Ziel der revolutionären Umwälzung dieser Verhältnisse ist damit gerade die umfassende Entwicklung der Persönlichkeit des arbeitenden Menschen begründet

Anmerkung

1/27 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, S. 129.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 4.7. Materialistische und proletarische Kritik bürgerlicher Staatsauffassung, in: 4. Kapitel: Materialismus und revolutionäres Klassenbewusstsein contra subjektiven Idealismus (zur aktuellen weltanschaulichen Bedeutung der „Heiligen Familie“)

25.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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