Weltanschauung – revolutionäres Denken
Vorleistungen Hegels und Feuerbachs „große Tat“
Von Otto Finger
Eine wissenschaftliche Theorie der Veränderbarkeit der sozialen Verhältnisse, eine wissenschaftliche Philosophie der Revolution ist weder aus dem alten, bürgerlichen Materialismus noch aus dem dialektischen Idealismus herzuleiten. Dass beide, insbesondere in ihren klassischenHöhepunkten, in Hegel und Feuerbach also, für die Herausbildung der materialistisch-dialektischen Weltanschauung unverzichtbare Vorleistungen erbracht haben, steht hier außer Frage.
Nur betreffen diese Leistungen eher das allgemeineste philosophische Vorfeld der Theorie der Arbeiterklasse als ihr Zentrum: dieses Zentrum aber ist politisch-revolutionärer und sozialistisch-ideologischer Natur. Die entscheidende Trennungslinie ist damit angegeben: Sie markiert die Klassendifferenz, den Klassengegensatz von bürgerlichem und proletarischem philosophischem Bewusstsein. Gewiss lässt sich sagen: ohne Hegels universell durchgeführten dialektischen Entwicklungsgedanken und ohne Feuerbachs Idee vom Menschen als einem Naturwesen keine materialistisch-dialektische Entwicklungstheorie, deren politisch konkreteste Gestalt nichts anderes als die Theorie der proletarischen Revolution und des revolutionären Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft ist.
Wir sagten eben von Hegel und Feuerbach, sie führten ins philosophische Vorfeld der revolutionären Theorie der Arbeiterklasse. Dies heißt, dass weder der alte Materialismus noch die Hegelsche Dialektik ohne ihre kritische Negation durch Marx für den sozialistischen Menschheitsfortschritt produktiv gemacht werden konnten. Und dies heißt ferner, dass sie sich eben solcher kritischen Negation anboten, fortentwickelt wurden über ihre philosophischen und politischen Schranken hinaus. Was Hegel anlangt, hat Engels einmal diesen Sachverhalt auch dadurch kenntlich gemacht, dass er den in ihm angelegten, aber nicht durchgeführten revolutionierenden Ansatz von seiner Marxschen Konsequenz unterschied. Friedrich Engels spricht im „Ludwig Feuerbach“ von der „wahren Bedeutung“ und vom „revolutionären Charakter“ der Hegelschen Philosophie. Er versteht hierunter insbesondere solche weltanschaulichen nAnsätze wie die folgenden:
– Hegel habe der Vorstellung von der Endgültigkeit des menschlichen Denkens und Handelns ein für allemal den Garaus gemacht.
– Er (Hegel) habe die Wahrheit, die es in der Philosophie zu erkennen gelte, nicht mehr als eine Summe fertiger dogmatischer Sätze, sondern als den geschichtlichen Prozess des Erkennens selbst aufgefasst, als Aufsteigen der Erkenntnis von niederen zu höheren Stufen, ohne bei einem Endpunkt anzulangen.
– Wie philosophische Erkenntnis nur als geschichtlicher Prozess zu begreifen sei, so auch jede andere Erkenntnis und das praktische Handeln der Menschen: alle aufeinanderfolgenden geschichtlichen Zustände erscheinen so als unter je gegebenen Bedingungen notwendige, unter neuen Bedingungen als hinfällig und unberechtigt, als „… vergängliche Stufen im endlosen Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft vom Niedern zum Höhern … Wie die Bourgeoisie durch die große Industrie, die Konkurrenz und den Weltmarkt alle stabilen, altehrwürdigen Institutionen praktisch auflöst, so löst diese dialektische Philosophie alle Vorstellungen von endgültiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden absoluten Menschheitszuständen auf. Vor ihr besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozess des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern, dessen bloße Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist.“ [1/30]
Es liegt auf der Hand, dass solches universelles Entwicklungsdenken, solch dialektischer Historismus, dessen weltanschaulicher Grundstandpunkt in der Idee des Werdens, des notwendigen Entstehens und notwendigen Vergehens jedes historischen Zustandes liegt, für eine Philosophie, deren erklärtes Ziel die sozialistisch-revolutionäre Umwälzung ist, unverzichtbare Ansätze bietet. Ansätze vor allem, die durch Marx zu ebensovielen theoretischen Waffen gegen jene Gesellschaft fortentwickelt werden, auf deren Boden Hegels dialektische Philosophie erwachsen ist.
Friedrich Engels weist im zitierten Zusammenhang nachdrücklich darauf hin, dass die angegebenen weltanschaulichen Motive sich in dieser Schärfe und Ausdrücklichkeit bei Hegel nicht finden, dass sie eine notwendige, aber von Hegel selbst nicht gezogene Konsequenz seiner Methode sind, ja dass schließlich die revolutionäre Seite erstickt wird unter der überwuchernden, konservativen, dass die inneren Notwendigkeiten des Hegelschen Systems – speziell sein Anspruch, die absolute Wahrheit selbst zu sein – hinreichten, sehr zahme politische Schlussfolgerungen zu ziehen. –
Engels verweist darauf, wie Hegel im Widerspruch zu allen revolutionären Keimen seiner dialektischen Methode in der Rechtsphilosophie dahin gelangt, die absolute Idee in der ständischen Monarchie verkörpert zu sehen, die Friedrich Wilhelm III. seinen Untertanen versprach. [2/31]
Auf revolutionierende Momente der Feuerbachschen Philosophie hat der junge Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ hingewiesen. Seit Hegels „Phänomenologie“ und „Logik“ seien Feuerbachs Schriften die einzigen, worin eine „wirkliche theoretische Revolution“ enthalten ist. [3/32] –
Ja, er (Feuerbach) gilt Marx im Jahre 1844 noch als der „wahre Überwinder der alten Philosophie“. [4/33] Seine „große Tat“ ist es nach Marx: 1. Bewiesen zu haben, dass die spekulativ-idealistische Philosophie nur denkend ausgeführte Religion, damit eine andere Form der Entfremdung des menschlichen Wesens und als solche zu verurteilen ist. 2. Denn „wahren Materialismus“ und die „reelle Wissenschaft“ begründet zu haben, indem das Verhältnis des Menschen zum Menschen zum Grundprinzip der Theorie gemacht worden sei. 3. Dem Hegelschen Prinzip der Negation der Negation (Ausgehen von der Religion und Theologie, Aufheben der Religion und Theologie in der Philosophie, Wiederherstellung der Religion und Theologie) das „positiv auf sich selbst begründete Positive entgegengestellt“ zu haben. Dies lässt sich dahin zusammenfassen: Feuerbach hat an die Stelle der absoluten Idee als Ausgangs- und Endpunkt spekulativ-dialektischen Philosophierens den Menschen als höchsten Gegenstand der Philosophie gesetzt.
Dies schloss bei Feuerbach die bis dahin radikalste Kritik der Religion und des Idealismus ein; beide wies Feuerbach als Bewusstseinsformen nach, in denen der Mensch mystifiziert wurde. Das Durchbrechen aber dieser Mystifikation, dieses Auslöschens der Menschen in Gott, seiner wirklichen Aktivität in der Tätigkeit des abstrakten Denkens hat sich als notweniger Schritt auf dem Wege zum historisch-materialistischen Begreifen des menschlichen Handelns erwiesen. –
Auch von daher konnte Karl Marx sagen, dass die Kritik der Religion der Anfang aller, auch der proletarisch-revolutionären Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sei [5/34]. –
Der Atheismus, dies wird noch auszuführen sein, ist ein ebenso unveräußerliches weltanschauliches Moment der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie wie das dialektische Entwicklungsdenken. Erst mit Atheismus verknüpft, vermag Hegels großartiger Entwicklungsgedanke des unendlichen widerspruchsvollen Aufsteigens vom Nieren zum Höheren in die weltanschauliche Begründung der sozialistischen Umwälzung einzugehen. –
Ihr Atheismus schließt jede die Aktivität des revolutionären Handelns lähmende Theologie und Teleologie aus, wonach Geschichte auf einen durch Gott vorgegebenen Endzweck zusteuert.«
Anmerkungen
1/30 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 267f.
2/31 Vgl. ebenda, S. 268f.
3/32 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 468.
4/33 Ebenda, S. 569.
5/34 Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, S. 378.
Quelle: nPhilosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 1. 6. Vorleistungen Hegels und Feuerbachs „große Tat“, in: 1. Kapitel: Weltanschauung, „moderne“ Anthropologie, revolutionäres Denken.
07.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)