Anthropologie und Sozialreformismus

Von Otto Finger

In den Versuchen von Ideologen des heutigen Sozialreformismus, Alternativen zu gescheiterten varianten imperialistischer Politik zu liefern, die brutalen, offen aggressiven, ultrareaktionären Methoden und Konzepte des Antikommunismus und der Konterrevolution durch sanftere, raffiniertere, verdecktere zu ersetzen, spielt die Belebung einer ganzen Serie weltanschaulicher Fragen seit einigen Jahren eine zunehmende Rolle. Eine der Linien, in denen das eklektische nebeneinander der verschiedensten ideologischen Anleihen bei der spätbürgerlichen Schulphilosophie, den heutigen bürgerlichen Geistes- und Sozialwissenschaften wie auch bei den alten Vorbildern und Originalen rechtsopportunistischen und revisionistischen Denkens zu einer charakteristischen antimarxistischen Tendenz zusammengefasst wird, ist die Anthropologie. Sie gehört hier mitten hinein in den Anspruch des Sozialreformismus, politisch und ideologisch eine“moderne“ flexible, wandlungsfähige Alternative sowohl zum ultrareaktionären Konservatismus als auch zum marxistisch-leninistischen Sozialismus und Kommunismus zu bilden. Nicht also, dass sozialreformistische Theoretiker und Politiker eine eigenständige, originelle, zusätzliche philosophische Anthropologie geschaffen hätten zu all den existenzialistischen, freudianischen, positivistischen, strukturalistischen, theologischen Anthropologien, von denen es im heutigen geisteswissenschaftlichen und philosophischen Betrieb nur so wimmelt! Wohl aber geben sie hier, wie in allen übrigen Bestandteilen ihrer ideologischen Praxis, ein Muster an eklektischer Vermengung. Eine „Synthese“, die besonders augenfällig zeigt, was der Grundgehalt aller Anthropologien ist, sofern sie – und das geschieht gerade hier – eine Probe auf die praktische Politik machen. Deutlich wird diese Doppelfunktion: Aufbau einer Scheinperspektive zu den innerhalb der fortbestehenden Produktionsverhältnisse des Monopolkapitalismus unlösbaren, für die arbeitenden Menschen tödlich gefahrvollen Widersprüchen der imperialistischen Gesellschaft zum einen. Zum andern: Formierung nicht schlechtweg bloß antimarxistischer Ideologie, Ideologie der Abwehr {…} der Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus, sondern genauer einer antisozialistischen, im Kern konterrevolutionären Strategie, gerichtet {…} gegen die weltgeschichtlich notwendige und gesetzmäßige Perspektive des Kommunismus. [1/14]

Im Namen einiger auf den ersten Blick ganz harmloser, unverbindlich abstrakter Phrasen über den Menschen, seine Werte, seine Würde, seine Freiheit, im Namen also eines abgedroschenen anthropologischen Gewäsches werden die in ihrer wirklichen Stoßrichtung gar nicht mehr harmlosen und unverbindlichen, sondern durchaus ernstzunehmenden und konkret-politischen Angriffe auf Grundlagen der sozialistischen Ordnung geführt [– 1975 – 1989/90 etc.]. Die in durchaus proimperialistischer Verbindlichkeit, mit genauer antisozialistischer Programmatik verbundenen Attacken gelten den sozialistischen Produktionsverhältnissen, der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, der Enteignung der Monopole, der Macht der Arbeiterklasse, der führenden Rolle ihrer marxistisch-leninistischen Partei, der sozialistischen Ideologie und Kultur. Kurz, die sozialökonomischen, politischen, ideologischen Voraussetzungen und Garanten des wirklichen Sozialismus entpupp(t)en sich als Angriffsziele des so bieder, volkstümlich, so human, so besorgt um den sozialen Fortschritt argumentierenden anthropologischen Philosophierens sozialdemokratischer Ideologen. Und in der Tat bietet diese Anthropologie auch den weltanschaulichen Boden für das sehr konkrete Programm des praktisch-politischen und ideologischen Antikommunismus.

Waldemar von Knoeringen hat entgegen mancherlei falschen Vorstellungen – innerhalb und außerhalb der SPD –, dass es sich bei dieser Partei um eine ideologiefreie Partei handle, weltanschauliche Fragen in ihr gar keine oder eine völlig nebengeordnete Rolle spielen, deutlich ausgesprochen, dass es für die Durchsetzung ihrer Ziele durchaus auf eine „Reideologisierung“ ankomme. Tatsächlich spielte und spielt ja innerhalb des Sozialreformismus und auch innerhalb der verschiedenen „linken“ und rechten Revisionismen die Vorstellung von der notwendigen Befreiung vom „ideologischen Ballast“ nur solange und soweit eine Rolle, wie es darum ging und geht, den revolutionären Marxismus-Leninismus zu treffen und im Falle des Sozialreformismus alle etwa durch Tradition noch lebendigen Inhalte und Reste marxistischen Bewusstseins auszumerzen und den Einfluss der marxistisch-leninistischen Weltanschauung auf die Masse der Arbeiter [nicht nur] in dieser Partei abzuwehren. –

In einem mit „Anthropologische Orientierung der Politik“ überschriebenen Beitrag forderte Knoeringen gerade im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, ein „humanes Wertsystem“ zu schaffen, es den technischen Apparaten vorzugeben, damit sie nicht zur Unmenschlichkeit führten – in diesem Bezug also forderte er „Reideologisierung“: „Die andere Entwicklung (also nicht die in dem „technischen Staat“, wie ihn Helmut Schelsky aus einer wertfrei angewandten perfekten Technik abgeleitet habe; O. F.) ist nur denkbar, wenn der Mensch bewusst und in ständiger Weiterentwicklung ein humanes Wertsystem dem Apparat vorzugeben imstande ist. Er muss Normen setzen … Dieses Wertsystem kann keine deklamatorische Verkündigung allgemeiner Menschheitsideale sein. Es muss sich gründen auf die Anerkennung der Würde des Menschen in unserer Zeit … In einem weiteren Sinne ist jede Anerkennung von Normen und Werten Ideologie. Das schreckt mich nicht. Ich bin der Auffassung, dass wir vor einer Reideologisierung der Politik stehen.“ [2/15] Dabei darf das durch von Knoeringen Geforderte weitgehend als repräsentativ gelten. Das Wortgeprassel von den sogenannten „Grundwerten des demokratischen Sozialismus“ begegnet uns in einer Vielzahl von Dokumenten [nicht r nur] der SPD-Führung, in Reden ihrer führenden Repräsentanten und findet sich in einer ganzen Serie von Beiträgen zur „Theorie“-Diskussion der „Neuen Gesellschaft“. Diese Diskussion bewegt sich seit Anfang der siebziger Jahre im Grunde um die Frage, was für die SPD zwecks besserer Erfüllung ihres politischen Ziels, die spätbürgerliche Gesellschaft im Interesse des Monopolkapitals funktionstüchtig zu halten, an „theoretischer“, ideologisch-weltanschaulicher Aufrüstung vonnöten sei.

Dasjenige, was nun als Inhalt dieses Vorgangs angegeben wird, die ausdrücklich als ideologisch zugestandenen Werte und Normen erscheinen uns zunächst als genau dasjenige, was sie doch nicht sein sollten, nämlich als „deklamatorische Verkündigung allgemeiner Menschheitsideale“. Sie entsprechen demjenigen, was schon der junge Marx als bürgerliche Ideologie im Sinne falschen Bewusstseins entlarve. In ihr verkehren sich das wirkliche gesellschaftliche Verhältnis, der konkrete soziale Vorgang, das ökonomisch bestimmte Klasseninteresse in den irrealen Begriff, in ein abstrakt-überhistorisches Verhältnis, in eine unbestimmt allgemeinmenschliche Norm.

Der sogenannte „freiheitliche Sozialismus“ wird als die „Orientierungsmarke“ bezeichnet, nach der die Sozialdemokratie zu „segeln“ habe. Und in Ausschaltung auch des letzten Restes von konkret-historischer, konkret-politischer Zielsetzung, die an die geschichtlichen Traditionen und die moderne Wirklichkeit der revolutionären sozialistischen Bewegung, ihre Klassenschlachten gegen Kapital und Monopol {…} anzuknüpfen hätte, wenn sie auch nur einen Funken von dem in sich bergen würde, was wirklicher Sozialismus ist – in völliger Ausmerzung also solcher Inhalte wird hier Sozialismus zu einem ganz leeren Begriff, in eine Reihe gestellt mit den hier gleichfalls leeren Begriffen von Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit. Leer, soweit sie aus ihrem Bezug zur wirklichen Bewegung der Klassen, zu den politischen Zielen der Arbeiterklasse herausgelöst werden: Sie sollen „über den Zeiten stehen.“ –

Das einzig „freiheitliche“ an solchem Sozialismus ist einerseits seine Gleichsetzung mit der abstrakten Phrase von Freiheit. Andrerseits seine „Befreiung“ von allen konkreten Erfordernissen und objektiven Gesetzmäßigkeiten des revolutionären Kampfes der Arbeiter gegen die kapitalistischen Ausbeuterverhältnisse. Freilich ist dies so „gereinigte“ Abstraktum „Sozialismus“ – wie eine ganze Serie politischer und sozialer Grundbegriffe des ideologischen Klassenkampfes der imperialistischen Bourgeoisie gegen den Sozialismus – für sehr konkrete Inhalte „geöffnet“: Inhalte des Antikommunismus, des Antisowjetismus [- 1975 – 1991 etc.], des Einschleusens jeder Art bürgerlicher und imperialistischer Ideologie in die Arbeiterschaft.

Das ebenso Groteske wie für den sozialen Fortschritt unserer Zeit Verhängnisvolle dieser Deklamationen über „freiheitlichen“, „humanen“, „demokratischen“ Sozialismus (die Deckungsgleichheit der Etikette, die hier der Sozialismus von einem sozialdemokratischen Ideologen verliehen bekommt, mit der Phraseologie der modernen Revisionisten ist frappierend!) liegt in folgendem: im Namen eines Begriffs und eines Ideals, um dessen Verwirklichung seit mehr als anderthalb Jahrhunderten die revolutionäre Arbeiterklasse gekämpft hat, {…} gerade im Namen eines solchen Ideals wird versucht, seine praktische Verwirklichung {…} aufzuhalten, werden die praktisch notwendigen Wege der Errichtung des Sozialismus verdeckt. Verdeckt auch mittels Anthropologie: sie erscheint als ein weltanschaulicher Angelpunkt, aus dem heraus die von der Arbeiterklasse zu verändernden, revolutionär zu stürzenden Verhältnisse verharmlost, für unwesentlich erklärt werden. Ihnen gegenüber werden dann die „Natur“ des Menschen, seine „Schwäche“, seine „Unzulänglichkeit“, seine „Formbarkeit“, seine „Triebe“ zum Wesentlichen. Wissen um den Menschen ist so schließlich gar Voraussetzung einer sogenannten „humanorientierten“ Politik, die in eins gesetzt wird mit sozialistischer Politik. Weder in der Theorie noch in der Praxis bleibt so irgendetwas vom Sozialismus übrig.

Es gäbe also, dies war der Ausgangspunkt der Verflüchtigung des wissenschaftlich-revolutionären Sozialismus in eine gehalt- und gestaltlose Ideologie eines anthropologisierenden Pseudo- und Antisozialismus, es gäbe Worte und Begriffe, die über den Zeiten ständen, und zwar deshalb, wie wir sogleich belehrt werden, „weil sie einer tiefen Sehnsucht, einer Hoffnung, einem Orientierungsbedürfnis des Menschen Ausdruck geben.“ [3/16]

Neben den genannten – Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit – seien solche überzeitlichen Begriffe eben auch Christentum, Humanismus und Sozialismus. Interessant ist in unserem Zusammenhang nun nicht etwa das philosophisch völlig abgeschmackte Neuauflagen all der tausendfältig – theoretisch und praktisch – widerlegten bürgerlich-ideologischen Vorstellungen von der überhistorischen Gültigkeit konkreter Verhältnisse und konkreter geistiger Strömungen. Sie haben ihre Klassenwurzel sämtlich in der Grundidee bürgerlichen Bewusstseins, der Idee von der ewigen Geltung des kapitalistischen Produktionsverhältnisses, die im Entwicklungsprozess bürgerlicher Ideologie bald auf diese, bald auf jene Seite dieser Ideologie selbst ausgedehnt wird. Also etwa auf das Christentum oder den Humanismus, die ja beide gerade im Verlaufe der Entwicklungsgeschichte der bürgerlichen Produktionsweise sich als ganz und gar nicht überzeitliche Größen erwiesen haben, sondern sich durchaus in Inhalt, politischer und ideologischer Funktion unübersehbar gewandelt haben. Und der in der Ideologie des heutigen rechten Sozialdemokratismus in Rede stehende Begriff des Sozialismus hat sich selbst ja in der fatalsten Weise gewandelt: Er ist ja hier zum gänzlich bürgerlichen, ja letztlich proimperialistischen Begriff geworden.

Das ist auf den ersten Blick ablesbar an der sozialpolitisch zentralen These dieses „Sozialismus“: Sie besagt, dass die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse und insbesondere auch das monopolkapitalistische Eigentum nicht das Entscheidende, Ausschlaggebende für die barbarischen Zustände der heutigen spätbürgerlichen Welt seien. Vielmehr komme es, wie seit dem Godesberger Programm der SPD von 1958 immer wieder in den verschiedenesten Varianten behauptet wird, auf die sogenannte „Verfügungsgewalt“, auf die „Durchschaubarkeit“ der Verhältnisse usf. an. –

Interessant ist die Frage: ist diese „Reideologisierung“, dieses betonen der Rolle von Weltanschauung in der Politik, ist die hier in Anschlag gebrachte Philosophie und Weltanschauung Dienst an der Arbeiterschaft, oder Interessenvertretung ihres Antipoden, der heutigen Kapitalistenklasse. So sehr sich sozialdemokratische Ideologen bemühen mögen, das uralte opportunistische Märchen vom Unwichtigwerden der Eigentums- und Klassenfrage neu zu erzählen, die Klassenfrage ist hier zu stellen und die Antwort lautet auch für die „modernen“ anthropologischen Tiraden: Es ist alte bürgerliche Ideologie, zugeordnet den Herrschaftsinteressen der imperialistischen Bourgeoisie.

Wogegen also wird hier anthropologisch argumentiert? In einem Satz: Gegen Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, gegen die Weltanschauung der Arbeiterklasse und gegen ihre praktische Machtausübung {…} [- 1975 -]. Die dabei verwendete Methode ist ebenso alt wie primitiv: Verfälschung beider, der Theorie und der Praxis. Gegen deren Karikatur im sozialreformistischen Fälschungskonzept lässt sich dann freilich mit den abgegriffenen Argumenten bürgerlicher Ideologie zu Felde ziehen. Das Ganze ist keine theoretisch irgendwie ernstzunehmende Auseinandersetzung {…} Hier werden Scheingefechte geführt. Weil sie gleichwohl {…} politische und ideologische Wirkungen ausüben, bedürfen sie der Berücksichtigung.

Es seien einige der wichtigsten Fehlurteile genannt, auf die sich dann die Behauptung gründet, dass alles künftige Heil „sozialistischer“ Politik von ihrer anthropologischen Fundierung zu erwarten sei. Zunächst das, was den Sozialismus betrifft. Da er ja hierbei nur als Begriff vorkommt, so wird er auch nur idealistisch und psychologisch definiert: Sozialismus, das sei „Ausdruck einer säkularen Geistesströmung“.

Diese „Geistesströmung“ habe sich dann in den „verschiedensten! (!) Bewegungen und Organisationen manifestiert. [4/17] Ferner sei Sozialismus: Ausdruck der Sehnsucht nach einer gerechten, sozialen, humanen gesellschaftlichen Ordnung … [5/18] Dieser freiheitliche Sozialismus müsse von dem Schutt befreit werden, der durch den „Zusammenbruch ökonomischer und eschatologischer Erlösungsdoktrinen“ entstanden sei. Er müsse neu interpretiert werden „im Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit“ [6/19]. Eine weitere Hauptthese betrifft dann den vorgeblich auf den abstrakten Einzelnen abzielenden Kern des Sozialismus. Womit wir es zu tun haben, ist eine individualistische Gegenkonzeption gegen den Klasseninhalt jeder theoretischen und praktischen Frage des Sozialismus, sofern unter ihm eben gerade mehr, Konkretes, Humaneres verstanden wird als solcher „Begriff“, solche „Sehnsucht“, wie er in dieser Phraseologie vorkommt. Eben gegen den Klasseninhalt, gegen die Mobilisierung der Massenaktionen des Proletariats, gegen die demokratisch-zentralistisch gestaltete Errichtung des Sozialismus {…} geht es in der folgenden Behauptung: „Und wenn auch in Verkennung der menschlichen Möglichkeiten kollektivistische Ideen übergewichtig wurden, so blieb der Sozialismus in seiner innersten Substanz auf den einzelnen Menschen festgelegt.“ [7/20]

Das abwertend gemeinte „Kollektivistisch“ steht hier stellvertretend für solche Grundpositionen der marxistisch-leninistischen Lehre vom Klassenkampf, von der Partei, von der Revolution, vom Aufbau des Sozialismus, von den Aufgaben der Führungsorgane der sozialistischen Gesellschaft wie die folgenden:

dass die Volksmassen die Geschichte machen

dass die Arbeiterklasse nur in disziplinierten Massenaktionen das Kapital stürzen kann

dass die Arbeiterklasse auf ihrem revolutionären Wege zur politischen Macht von einer revolutionären Avantgarde, der Partei, geführt werden muss

dass der Aufbau und die umfassende Entwicklung des Sozialismus nur auf der Basis der Leninschen Prinzipien des demokratischen Zentralismus, einer starken Staatsmacht und der Führungstätigkeit der Partei der Arbeiterklasse gelingen kann. [- 1975 -]

Das sind jene Grundbedingungen, Organisationen und Formen des „kollektivistischen“, sprich auf die Interessen der werktätigen Volksmassen und ihrer sozialen Hauptkraft, der Arbeiterklasse {…} dem hier der Angriff gilt. Wiederum wird dabei ein uralter bürgerlich-ideologischer Gegensatz aufgetan: der von Individualität und Allgemeinheit. In der Tat sind die genannten Prinzipien – theoretische Ausdrücke der {…} geschichtlichen Bewegung und Maßregeln für sozialistisch-revolutionäre Politik in einem – gerade die praktisch-gesellschaftlichen Auflösungen dieses Widerstreits von Individuellen und Allgemeinem.

Die Marxisten-Leninisten halten es, was das Individuum, seinen materiellen und kulturellen Reichtum, die Entfaltung seiner Persönlichkeit im sozialistischen Kollektiv anlangt, mit diesem Grundsatz des historischen Materialismus, „dass der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt,“ [8/21] {…} Dem Marxismus-Leninismus wird vom Sozialreformismus hier unterstellt, was ein Grundfehler der ganzen Anthropologie ist, gleichgültig ob von klassisch-idealistischer, Feuerbachscher oder freudianischer und sonstiger Abkunft: die Abstraktheit der Menschbetrachtung, das abstrahieren von den konkret-historischen Klassenverhältnissen, in denen jedes individuelle Verhalten nur begriffen werden kann, von der Gesamtheit der sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen, ideologischen Beziehungen, in denen sich das Individuum überhaupt nur als Persönlichkeit bilden kann. Es heißt im Sinne dieser totalen Verkehrung, die eine ganz ungewöhnlich grobe Fälschung darstellt: „Die kommunistische Ideologie und die darauf gründende Politik ging von der Idee eines abstrakten Individuums aus, von der Vorstellung, die Menschheit sei die Summierung vernünftiger Einzelmenschen. Der einzelne Mensch sei in seinem Wesen gut und der Vervollkommnung fähig.“ [9/22]

Dies ist eine besonders sinnfällige Verdeutlichung der oben getroffenen Feststellung, dass hier Scheingefechte geführt werden. Es werden hier Attacken gegen eine „Kommunistische Ideologie“ geführt, die gar keine Ideologie der Arbeiterklasse, sondern gerade des Bürgertums ist.

Von einer erzidealistischen Voraussetzung für die zitierte Verballhornung der marxistisch-leninistischen Theorie und sozialistischen Praxis geht Knoeringen nachdrücklich aus: „Jeder Ideologie, jedem Herrschaftssystem und jeder Politik liegt im letzten eine Vorstellung von der Natur des Menschen zugrunde.“ [10/23] Von daher stellt sich dann freilich das gesamte Argumentieren als eine ganz platte Tautologie heraus: wenn alle Ideologie und Politik angewandte Anthropologie sind und der Marxismus-Leninismus Ideologie und Politik ist, dann ist er auch Anthropologie. Ein primitiverer Begriff von idealistisch begründeter Politik ist kaum vorstellbar: Die Politik wird durch den jeweiligen Begriff vom Menschen bestimmt. Politik zu treiben und politische Revolutionen zu vollbringen: nichts wäre leichter als das! Es bedürfe ja bloß eines anderen Menschenbegriffs, um von dieser zu jener Politik zu gelangen, gar auch Herrschaftssysteme umzuwälzen.

Es wird behauptet, die sozialistische Ideologie habe nicht die rechte Anthropologie. Schlussfolgerung: diese Ideologie muss „scheitern“. Sie könne sich noch immer nicht zur „wahren Natur“ des Menschen bekennen. Und warum nicht? Weil dies nicht mit dem „absoluten Herrschaftsanspruch der kommunistischen Partei“ übereinstimme. Politisch liegt genau hierin des Pudels Kern. Sozialdemokratischer Antikommunismus {…} teilt dies mit allen anderen Varianten spätbürgerlicher Reaktion {…} Den philosophischen Tiraden sozialdemokratischer Ideologen verdanken wir dabei nur ein besonders deutliches Sichtbarmachen der wirklichen politischen Inhalte und Funktionen von Anthropologie unter den Bedingungen des modernen ideologischen Klassenkampfes.«

Anmerkungen

1/14 V gl. W. v. Knoeringen und U. Lohmar, Was bleibt vom Sozialismus, Hannover 1968. »Zur Auseinandersetzung mit philosophischen und ideologischen Grundtendenzen dieser Publikation (sie enthält Beiträge von R. Löwenthal, H. R. Schlette, A. Mozer, P. Graf, B. Kreisky, W. v. Knoeringen, P. Glotz) vgl. G. Heyden, Weltanschauliche Grundlagen des Sozialdemokratismus, in: Einheit, Heft 2/1971.«

2/15 Was bleibt vom Sozialismus, S. 97.

3/16 Ebenda, S. 98.

4/17 Ebenda, S. 99.

5/18 Ebenda.

6/19 Ebenda, S. 98.

7/20 Ebenda, S. 99.

8/21 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in : Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 37.

9/22 Was bleibt vom Sozialismus, S. 99.

10/23 Ebenda.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als marxistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 1.3. Anthropologie und Sozialreformismus, in: 1. Kapitel: Weltanschauung, „moderne“ Anthropologie, revolutionäres Denken.

02.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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