Einkommensarmut 2012
Die faulen Früchte der Sozialpartner der Bourgeoisie: Arbeitsarmut kräftig gewachsen!
Die Armut hat sich bei Erwerbstätigen und Arbeitslosen in Deutschland seit Einführung des offenen Hartz-IV-Vollzugs stärker ausgebreitet als in allen anderen EU-Ländern.
Das “Beschäftigungswunder“ in Deutschland hat eine Schattenseite: „Analysiert man die soziale Lage der Erwerbsbevölkerung, dann zeigt sich, dass die deutschen Beschäftigungserfolge mit einem hohen sozialen Preis verbunden waren“, sagt WSI-Forscher Eric Seils.
Der Sozialwissenschaftler hat die verfügbaren Zahlen aus der EU-weiten Erhebung von Armutsdaten ausgewertet. Demnach waren 2009 laut EU-Statistikbehörde Eurostat in Deutschland 7,1 Prozent der Erwerbstätigen von Arbeitsarmut betroffen. Das heißt, ihnen standen weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung – das ist die gängige (verordnete) wissenschaftliche Armutsgrenze.*
In Deutschland liegt diese Experten-Schwelle für Armut für einen Alleinstehenden bei 940 Euro im Monat. Im Vergleich zu 2004 ist der Anteil der „Working Poor“ um 2,2 Prozentpunkte gestiegen. Damit nahm die Arbeitsarmut in Deutschland, ebenso wie in Spanien, deutlich stärker zu als in allen anderen EU-Staaten. Im Durchschnitt der EU-Kapitalgemeinschaft der Finanz- und Monopolbourgeoisie wuchs die Armutsquote unter Erwerbstätigen nach Eurostat nur um 0,2 Prozentpunkte. Der überdurchschnittliche Anstieg führte dazu, dass die EU-Deutschland AG mittlerweile bei der Arbeits-Einkommensarmut im europäischen Mittelfeld liegt. Zuvor war das Problem in der Quandtschen und Hundtschen Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise selten.
Bereits 70 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland befinden sich unter der offiziellen Armutsgrenze *
Noch weitaus drastischer als die Einkommensarmut bei Erwerbstätigen stieg seit 2004 die Armutsquote unter Arbeitslosen – um 29 Prozentpunkte. Das war fast sechsmal so viel wie im EU-Mittel, macht Seils’ Analyse deutlich. Im Jahr 2009 hatten 70 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland nur ein Einkommen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze – 25 Prozentpunkte mehr als im Durchschnitt der 27 EU-Staaten.
Parallel zur Ausbreitung der Einkommensarmut für Beschäftigte in Deutschland nahm auch die atypische Beschäftigung kräftig zu. Verschiedene Studien zeigen, dass befristete Lohnarbeit, Leiharbeit, Teilzeitstellen und sogenannte “Minijobs“ im Durchschnitt deutlich schlechter bezahlt werden als die sogenannten “Normalarbeitsverhältnisse“. Auch die Zahl der sog. “Soloselbständigen“ nahm zu, also von Freiberuflern ohne eigene Angestellte, die ebenfalls häufig schlecht verdienen.
Die Entwicklung der Einkommensarmut hat die Breite des Arbeitsmarktes erfasst
Allerdings reiche der Boom bei den atypischen Beschäftigungsformen allein nicht aus, um zu erklären, warum die Zahl der „Working Poor“ so markant gewachsen ist, betont der WSI-Experte: Die Daten zeigten, dass „die Entwicklung der Arbeitsarmut nicht durch wenige, isolierte Beschäftigungsformen getrieben wird, sondern gleichsam die Breite des Arbeitsmarktes erfasst hat“.
Mehr arme Beschäftigte und mehr arme Arbeitslose
Auch die hohe Armutsquote unter deutschen Arbeitslosen beruht nach Seils’ Analyse auf mehreren Faktoren. Einerseits spiegele sie teilweise die “Erholung am Arbeitsmarkt“ wider: Da vor allem Menschen wieder eine Arbeit fanden, die noch nicht so lange arbeitslos waren, stieg der Anteil der Langzeitarbeitslosen.
Die Langzeitarbeitslosen seien jedoch seit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe im Zuge der sog. “Hartz-Reformen“ in Deutschland schlecht gegen Armut abgesichert, erklärt der Forscher.
Bereits nach einem Jahr – einer im Vergleich zu etlichen europäischen Nachbarländern relativ kurzen Frist – erhalten Arbeitslose kein einkommensabhängiges Arbeitslosengeld I (ALG I) mehr, sondern nur noch das niedrigere „ALG II“ bzw. „Hartz-IV“ als „Grundsicherung“ (analog Sozialhilfe). Und das reicht nicht mehr, um das Haushaltseinkommen über der Armutsgrenze zu halten.
Der Sozialwissenschaftler sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen gewachsener Arbeits-Einkommensarmut und Arbeitslosenarmut: „Wer bereits in Beschäftigung arm war, wird es als Arbeitsloser erst recht sein.“ Sei es, weil das Einkommen so niedrig war, dass schon das ALG I unter der Grundsicherungsgrenze liegt. Oder weil ein prekär Beschäftigter mit unterbrochenem Erwerbsverlauf nicht lange genug am Stück beschäftigt war, um überhaupt einen Anspruch auf die Versicherungsleistung zu haben.
Quelle: Eric Seils: Beschäftigungswunder und Armut. Deutschland im internationalen Vergleich, im Erscheinen. Download unter www.boecklerimpuls.de / Böcklerimpuls 9/2012
http://www.boeckler.de/impuls_2012_09_7.pdf
* Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) berichtete bereits am 19. Mai 2008 wie folgt:
„Die Dimension des Armutsproblems wird umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass die Armutsschwelle trotz der hohen Inflation von 2003 bis heute (von 938 auf 781 Euro) abgesenkt wurde.“ (DGB, 19.05.2008)
Vgl.: »Der Armutsbericht der Bundesregierung ist ein Schwindel nach unten!«
http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/allg/schramm.pdf
25.05.2012, Reinhold Schramm