Dialektik der Revolution

Bewusstlosigkeit“ kapitalistischer Produktion, Möglichkeiten der Naturwissenschaft und kommunistische Perspektive

von Otto Finger

Engels’ Moralurteil führt so gleichfalls an einen grundlegenden sozialökonomischen Widerspruch der bisherigen Geschichte heran, an den Widerspruch zwischen Eigentum und Nichteigentum, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Unterdrückern und Unterdrückten.

An weiteren konkreten, einer revolutionären Lösung bedürftigen Widersprüchen untersucht Friedrich Engels in seinen „Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie“:

In der kapitalistischen Wirtschaft wird spontan, mit „Bewusstlosigkeit“ produziert; die Produktionsweise stellt sich als bewusst- und geistloser Zustand der Menschheit dar, obzwar gerade in der bürgerlichen Epoche ein noch nie geahnter Aufschwung produktiv zu verwertender Wissenschaft eintritt. Engels spricht hier erstmalig aus, dass Wissenschaft zur Produktivkraft wird, Naturkräfte durch Wissenschaft planvoll beherrscht werden können, zur Steigerung der Produktivität entscheidend durch Wissenschaft beigetragen wird. Gleichzeitig zeigt er, dass die Gesetze des gesamtgesellschaftlichen Prozesses den Menschen wie eine Naturkraft, wie ein Naturgesetz beherrschen. Anders: Er weist die „Naturwüchsigkeit“, d. h. Nichtbeherrschung, Nichtbewusstheit des ökonomischen Geschehens auf, ihre entfremdete, vom menschlichen Wollen und Wissen losgelöste, insbesondere den [sozial-ökonomisch-ökologisch-emanzipatorischen] Interessen der Werktätigen feindliche Gestalt auf. Engels verdeutlicht diesen Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft anhand der Wirtschaftskrisen, speziell der Überproduktions- und Handelskrisen.

Es heißt hierzu: „Das Gesetz der Konkurrenz ist, dass Nachfrage und Zufuhr sich stets und ebendeshalb nie ergänzen. Die beiden Seiten sind wieder auseinandergerissen und in den schroffen Gegensatz verwandelt. Die Zufuhr ist immer gleich hinter der Nachfrage, aber kommt nie dazu, sie genau zu decken, sie ist entweder zu groß oder zu klein, nie der Nachfrage entsprechend, weil in diesem bewusstlosen Zustande der Menschheit kein Mensch weiß, wie groß diese oder jene ist … So geht es in einem fort, nie ein gesunder Zustand, sondern eine stete Abwechslung von Irritation und Erschlaffung, die allen Fortschritt ausschließt, ein ewiges Schwanken, ohne je zum Ziel zu kommen …“ [1/17]

Eine wesentliche Konsequenz der durch den anarchischen kapitalistischen Konkurrenzkampf erzeugten Krisen fasst Friedrich Engels so zusammen:

Der Kampf von Kapital gegen Kapital, Arbeit gegen Arbeit, Boden gegen Boden treibt die Produktion in eine Fieberhitze hinein, in der sie alle natürlichen und vernünftigen Verhältnisse auf den Kopf stellt. Kein Kapital kann die Konkurrenz des andern aushalten, wenn es nicht auf die höchste Stufe der Tätigkeit gebracht wird … Überhaupt keiner, der sich in den Kampf der Konkurrenz einlässt, kann ihn ohne die höchste Anstrengung seiner Kräfte, ohne die Aufgebung aller wahrhaft menschlichen Zwecke aushalten. Die Folge von dieser Überspannung auf der einen Seite ist notwendig Erschlaffung auf der andern. Wenn die Schwankung der Konkurrenz zu gering ist, wenn Nachfrage und Zufuhr, Konsumtion und Produktion sich beinahe gleich sind, so muss in der Entwicklung der Produktion eine Stufe eintreten, in der so viele überzählige Produktionskraft vorhanden ist, dass die große Masse der Nation nichts zu leben hat; dass die Leute vor lauter Überfluss verhungern … Schwankt die Produktion stärker, wie sie es infolge eines solchen Zustandes notwendig tut, so tritt die Abwechslung von Blüte und Krisis, Überproduktion und Stockung ein.“ [2/18]

Gegen die Malthussche Theorie der Überbevölkerung, des vorgeblich notwendig wachsenden Missverhältnisses zwischen landwirtschaftlicher Produktion auf der einen Seite und dem rasenden Tempo des Bevölkerungszuwachses auf der anderen Seite entwickelt nun Engels seine Auffassung von der Wissenschaft als Produktivkraft, einer Kraft, die fähig ist, die Agrikultur sehr rasch zu steigern.

Die Bevölkerungstheorie kennzeichnet Engels in diesem Zusammenhang als einen Ausdruck der bürgerlichen Unfähigkeit, die Polarisierung von Armut und Reichtum, von Überproduktion und Hunger, den Zirkel von Blüte und Krisis in ihren wirklichen Ursachen, nämlich aus der inneren Bewegung der Warenproduktion auf der Basis kapitalistischer Konkurrenz und kapitalistischen Profitstrebens heraus zu erklären. –

Letztere aber einmal als objektive Bedingung des fehlerhaften Kreislaufs, der schreienden Missstände, der krassen sozialen Widersprüche erkannt, kann die Folgerung nur lauten: Aufhebung, revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse.

In der Tat zieht Engels genau diese Schlussfolgerung der notwendigen antikapitalistischen Revolution bereits in den „Umrissen zur Kritik der Nationalökonomie“. Auch in diesem entscheidenden Punkt arbeitet so Engels den nkritisch-revolutionären Standpunkten der „Manuskripte“, wie wir sehen werden, vor. Und die These von der Wissenschaft als Produktivkraft, ebenso wie die von Engels begründete Notwendigkeit, wirtschaftlich-sozialen Prozess überhaupt mit Bewusstsein zu gestalten, gehört hier in den unmittelbaren Umkreis der durch Revolution, revolutionäre Lösung objektiver kapitalistischer Widersprüche begründeten kommunistischen Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklung.

Engels’ optimistischer Standpunkt – ein Optimismus, der fortan jede Seite der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, eingeschlossen ihre Revolutionslehre, kennzeichnet – lautet: „Die der Menschheit zu Gebote stehende Produktivkraft ist unermesslich. Die Ertragsfähigkeit des Bodens ist durch Anwendung von Kapital, Arbeit und Wisseschaft ins Unendliche zu steigern … [* Engels’ optimistische Annahme – im 19. Jh.; R. S.] Das Kapital steigert sich täglich; die Arbeitskraft wächst mit der Bevölkerung, und die Wissenschaft unterwirft dem Menschen die Naturkraft täglich mehr und mehr [* analog; R. S.]. Diese unermessliche Produktionsfähigkeit, mit Bewusstsein und im Interesse aller gehandhabt, würde die der Menschheit zufallende Arbeit bald auf ein Minimum verringern“ [3/19] –

Für die umfassende Verwirklichung von Wissenschaft als Produktivkraft ist somit nach Engels’ Standpunkt schon aus dem Jahre 1844 dies vorausgesetzt: Die Überwindung der Anarchie und Spontanität des gesellschaftlichen Prozesses sowie die volle Durchsetzung der Demokratie auch in der Nutzung der Wissenschaft. Beides kann nur als Ergebnis der Revolution geschehen.

Die revolutionäre Konsequenz aus all den von Engels für die kapitalistische Produktionsweise festgehaltenen Widersprüchen, die Folgerung, dass es sich nur um eine Revolution handeln kann, in der das Privateigentum aufgehoben wird, lautet:

Wir haben durch sie (die Malthussche Theorie als einen charakteristischen Ausdruck für den barbarischen Widersinn der kapitalistischen Ordnung; O. F.) [4/20] die tiefste Erniedrigung der Menschheit, ihre Abhängigkeit vom Konkurrenzverhältnisse kennengelernt; sie hat uns gezeigt, wie in letzter Instanz das Privateigentum den Menschen zu einer Ware gemacht hat, deren Erzeugung und Vernichtung auch nur von der Nachfrage abhängt, wie das System der Konkurrenz dadurch Millionen von Menschen geschlachtet hat und täglich schlachtet; das alles haben wir gesehen und das alles treibt uns zur Aufhebung dieser Erniedrigung der Menschheit durch die Aufhebung des Privateigentums, der Konkurrenz und der entgegengesetzten Interessen.“ [5/21]

Mehrfach formuliert Friedrich Engels in den „Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie“ diese Schlussfolgerung aus der Untersuchung der kapitalistischen Widersprüche: sie können nur durch eine Revolution, deren sozialökonomisches Kernstück die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln ist, gelöst werden. Und Engels erkennt, wie diese Widersprüche selbst zur Revolution treiben, dass sie ihre entscheidende objektive Bedingung sind. Durch die Krisen und ihre regelmäßige Aufeinanderfolge, worin die Folgen der kapitalistischen Produktion immer deutlicher hervortreten – die immer umfassendere Polarisierung der Bevölkerung –, würden die Probleme des Kapitalismus auf stets höherer Stufenleiter reproduziert, so dass sie „endlich eine soziale Revolution herbeiführen, wie sie sich die Schulweisheit der Ökonomen nicht träumen lässt“. –

Der Kapitalismus habe, sosehr er in der Konkurrenz jeden Menschen dem andern entgegensetzt, gleichzeitig und gerade damit die Tendenz zur „Auflösung“ aller Sonderinteressen. Auch damit wird nach Engels der Weg gebahnt „für den großen Umschwung, dem das Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschheit mit Natur und mit sich selbst.“ [6/22] –

Wir werden sehen, dass zu den von Karl Marx in den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ untersuchten Widerspruchsverhältnissen des Kapitalismus auch die Entfremdung des Menschen von der Natur zählt; dieses wesentliche und hochaktuelle Thema der marxistisch-leninistischen Kapitalismuskritik kündigt sich also gleichfalls bei Engels an und hier im Hinblick auf die kommunistische Perspektive aufgeworfen. Engels spricht von der Revolution ferner als einer „totalen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse“, die zur „Verschmelzung der entgegengesetzten Interessen“, zur Aufhebung des Privateigentums führe. [7/23]

Ebenso wie Marx in den „Manuskripten“, verbindet Engels in den „Umrissen“ die folgenden drei Momente zu einem einheitlichen Ganzen: Untersuchung der Widersprüche des Kapitalismus, Herleitung der Revolution aus ihnen und allgemeine Kennzeichnung ihres kommunistischen Resultats. Zur Charakteristik der neuen Qualität des gesellschaftlichen Lebens zählt außer den schon genannten Zügen:

In einem der „Menschheit würdigen Zustande“, also nach Beseitigung des kapitalistischen Privateigentums und der kapitalistischen Konkurrenz wird erst die „Wahrheit des Konkurrenzverhältnisses“ wirklich werden, nämlich das „Verhältnis der Konsumtionskraft zur Produktionskraft“. Selbstredend liegt auch hier eine „Konkurrenz“, ein Widerspruch vor, aber ein erkennbarer, rationell beherrschbarer, planbarer:Die Gemeinde wird zu berechnen haben, was sie mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln erzeugen kann, und nach dem Verhältnis dieser Produktionskraft zur Masse der Konsumenten bestimmen, inwieweit sie die Produktion zu steigern oder nachzulassen, inwieweit sie dem Luxus nachzugeben oder ihn zu beschränken hat.“ [8/24] –

An die Stelle des Interessengegensatzes im kapitalistischen Konkurrenzkampf tritt nunmehr ein in der menschlichen Natur begründeter „Wetteifer“, beschränkt auf seine „eigentümliche und vernünftige“ Sphäre, d. d. ein Wetteifer zur Verwirklichung humaner, bewusst gesetzter Ziele des arbeitenden Menschen

Anmerkungen

1/17 Friedrich Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 514.

2/18 Ebenda, S. 516 f.

3/19 Ebenda, S. 517.

4/20 »Den wesentlichen Gehalt der Malthus’schen Theorie, dieser wie Engels sagt „infame(n), niederträchtigen(n) Doktrin, dieser scheußlichen Blasphemie gegen die Natur und Menschheit“ charakterisiert er wie folgt: Malthus behaupte, „dass die Bevölkerung auf die Subsistenzmittel drückt, dass, sowie die Produktion gesteigert wird, die Bevölkerung sich in demselben Verhältnis vermehrt und dass die der Bevölkerung inhärente Tendenz, sich über die disponiblen Subsistenzmittel hinaus zu vermehren, die Ursache alles Elends, alles Lasters ist. Denn wenn zuviel Menschen da sind, so müssen sie auf die eine oder andre Weise aus dem Wege geschafft, entweder gewaltsam getötet werden oder verhungern. Wenn dies aber geschehen ist, so ist wieder eine Lücke da, die sogleich wieder durch andre Vermehrer der Bevölkerung ausgefüllt wird, und so fängt das alte Elend wieder an … Die Folgen dieser Entwicklung sind nun, dass, da die Armen gerade die Überzähligen sind, man nichts für sie tun soll, als ihnen das Verhungern so leicht als möglich zu machen, sie zu überzeugen, dass es sich nicht ändern lässt und dass für ihre ganze Klasse keine Rettung da ist als in einer möglichst geringen Fortpflanzung, oder wenn dies nicht geht, so ist es immer noch besser, dass eine Staatsgewalt zur schmerzlosen Tötung der Kinder der Armen, wie sie ,Marcus’ vorgeschlagen hat, eingerichtet wird … Es ist zwar wahr, diese Theorie stimmt sehr schlecht mit der Lehre der Bibel von der Vollkommenheit Gottes und seiner Schöpfung, aber ,es ist eine schlechte Widerlegung, wenn man die Bibel gegen Tatsachen ins Feld führt’!“ (Ebenda, S. 518.) –

Engels’ Kritik dieser Malthusschen Theorie trifft noch immer jede Art Rechtfertigungsdoktrin des Kapitalismus und seiner unheilbaren Gebrechen. Malthus habe, betont Engels, insbesondere zwei Sachverhalte „übersehen“: „überzählige“ Bevölkerung oder Arbeitskraft gehe immer mit überzähligem Kapital und überzähligem Grundbesitz einher. Ferner sei es doch eine Tatsache, dass jeder Arbeitende mehr erzeugt, als er verzehre.«

5/21 Ebenda, S. 520 f.

6/22 Ebenda, S. 505.

7/23 Ebenda, S. 522.

8/24 Ebenda, S. 516.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.5. „Bewusstlosigkeit“ kapitalistischer Produktion, Möglichkeiten der Naturwissenschaft und kommunistische Perspektive, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

30.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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